„Komm, gehe mit mir über das Diamantenmeer“, sagt sie und lacht dabei.
Dieses unbeschwerte Sheila-Lachen, das Adrian immer so berührt.
Die Schuhe hat sie ausgezogen und hält sie in einer Hand.
„Musst Du auch mal versuchen.“
Etwas Vogelartiges hat es, wie sie da über das Schotterbeet der Gleise spitzelt.
Adrian schaut skeptisch.
„Wenn jetzt ein Zug kommt, bist du platt. Wie eine Briefmarke.“
Sheila lacht, so dass es ihre braunen Locken schüttelt.
„Na und? Dann kannst du mich in einem Album aufbewahren und anschauen, wann immer du es magst.“
„Es ist aber nicht das dasselbe.“
„Nein,
das ist es nicht“, sagt sie und breitet die Arme aus, während sie nun
auf dem Gleis balanciert. In jeder Hand hält sie jetzt einen Schuh und
setzt vorsichtig einen Fuß vor dem anderen. Adrian findet, dass sie
dabei wie eine Hochseilartistin wirkt und klatscht applaudierend in die
Hände. Sheila reagiert mit einer gekünstelten Verbeugung, wobei sie das
Gleichgewicht verliert und mit den Füßen wieder im Schotterbeet landet.
„Aua, das piekst“, entfährt es ihr.
„Hätten die gewusst, dass du dir hier deine Beine vertreten willst, hätten die sicher einen Teppich ausgerollt.“
Sheila nickt ihm grinsend zu.
„Ja, einen roten und flauschigen. Nur für mich.“
„Sicher, nur für dich. Mit eingesticktem Namenszug.“
Adrian
lächelt bei dem Gedanken und findet, dass sie sich gut machen würde auf
einem solchen Teppich. Unnahbar schön und luftig ungetrübt zugleich,
wie es gerade dieses Kleid betont, das ihre Silhouette umspielt. Jenes
Kleid, in dem sich so gerne sieht, weil es von Unbeschwertheit erzählt.
Einige Mühe kostet es Adrian, seine Augen abzuwenden und den Blick auf die Uhr zu lenken.
„Komm, lass uns gehen. Da vorne ist die Station. Die Bahn wird in wenigen Minuten einfahren.“
„Ja,
Meister“, entgegnet sie spöttisch, schlüpft in ihre Schuhe und greift
nach seiner Hand. Er fasst sie und spürt die Wärme, die sie durchströmt.
Zart, weich und schutzbedürftig.
Schutz, den er ihr schwor. Damals, an jenem Tag, als sie mit dem Auto zu Freunden fuhren.
„Hey“, hatte Sheila gesagt, „ich zeige dir, wo ich gewohnt habe“.
Sie
nahmen die Autobahnabfahrt und als sie den Ort erreichten, wurde sie
sehr leise. Ihr Vater stand im Garten und entfernte Unkraut. Sheila
rollte sich im Beifahrersitz ein, damit er sie nicht sehen konnte als
der Wagen vorbeifuhr.
„Das ist er. Nie wieder will ich in seiner Nähe sein, lass uns bitte schnell weiterfahren.“
Adrian stellte keine Fragen. Er sah den Ausdruck in ihrem Gesicht und spürte eine Enge, die ihm den Hals zuschnürte.
„Onkel war am schlimmsten“, hatte sie gesagt, „Tante wusste alles und schwieg.“
Adrian wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Augenwinkel. Er wusste nicht, ob es Wut oder Trauer war.
Sie redeten nie mehr über die Familie. Adrian glaubte nicht, dass er passende Worte finden würde.
Fest
hält er ihre Hand, als der Zug mit quietschenden Bremsen einfährt. Es
sind nur wenige Menschen, die die Sitze in dem Bahnschlauch belegen.
Gelangweilt starren sie aus den Fenstern oder blättern in Zeitungen.
Zischend öffnen sich die Türen. Sheila stürmt eines der Abteile und
zieht Adrian dabei hinter sich her. Zielsicher steuert sie eine der
unbesetzten Polsterreihen an und lässt sich auf den Platz fallen. Er
positioniert sich gegenüber und wenige Sekunden später nimmt die Bahn
mit einem Ruck Fahrt auf.
„Ich muss dann gleich weiter“, sagt sie und schaut ihn an.
„Ja“, antwortet er und wendet den Blick ab.
„Hey, du kennst das doch - just business.“
„Ich weiß“, brummt Adrian und starrt aus dem Fenster.
Schweigend
lassen sie die Landschaft an sich vorüberziehen. Wortlos greift er ihre
Hand, während sie sich der Zielstation nähern. Als der Zug stoppt,
verlassen sie den Wagen. Nur wenige Straßenzüge sind zu passieren, um
die Wohnung zu erreichen.
Einige Minuten schweigenden Ganges
später gerät das Haus in ihr Sichtfeld. Eine schwarze Limousine ist es,
die dort bereits vor Einfahrt geparkt ist. Sie bleiben in einiger
Entfernung stehen, während Sheila ihre Hand von seiner löst und Adrian
zulächelt.
„Wir sehen uns dann später.“
Er sieht ihr nach, wie
sie auf den Wagen zugeht und dort angekommen, die Beifahrertür öffnet.
Schemenhaft lässt sich durch die Windschutzscheibe erkennen, wie zwei
Menschen miteinander reden und ein Briefumschlag den Besitzer wechselt.
Anschließend ist das Aufhellen des startenden Motors zu vernehmen.
Während der Wagen Fahrt aufnimmt und bald in einer Seitenstraße
verschwindet, steuert Adrian das Haus an. Gesenkten Hauptes erklimmt er
die Stufen zu der gemeinsamen Wohnung.
Sheila wird später
erscheinen. Müde und wortkarg. Sie wird sofort die Dusche aufsuchen und
viele Minuten unter dem heißen Strahl verbringen. Anschließend wird sie
sich im Bett unter Decke einrollen. So ist es immer an diesen Tagen.
Adrian wird dann ihre Hand halten. Er wird sie lange halten. Mindestens
bis sie eingeschlafen ist. Auch das ist immer so an diesen Tagen.
© by P.H.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen