Samstag, 29. Oktober 2011

"Piep"

Der Wecker nervt. Gibt jammernde Geräusche von sich. Einen penetranten
Piepton, als könnte er es nicht ertragen, mich schlafend zu sehen.

Träge lasse ich meine Hand auf den Wach-Schalter fallen. Glatt gelogen. Von
wach kann nicht die Rede sein, aber anders wird sich der Bursche nicht zum
Schweigen lassen bringen.

In einem Zustand zwischen Tiefschlaf und horizontalem Stehen beobachte ich
aus der Ferne, wie sich mein Körper erhebt, in die Küche schlurft und Kaffee
bereitet. Morgendliche Routinetätigkeit. Tausendfach absolviert und für
halbwegs geeignet befunden, um sich einem wachartigen Stadium anzunähern.

Die für den heutigen Tag geplante Garderobe droht in Gefahr zu geraten, da
die Jeans noch Restfeuchtigkeit aus dem vorangegangenen Waschprogramm
exportiert hat. Das Kurzprogramm des Trockners wird sie in Tragebereitschaft
versetzen. Schnaufend läuft die Maschine an und verschafft mir die nötige
Zeit, um ein komprimiertes Pflegeprogramm zu absolvieren.

Auf dem Weg in das Hygienezentrum füttere ich die Mikrowelle mit einigen
Brötchen aus dem Tiefkühler. Auftauen und Grillen. Ein Hoch auf die
fabelhafte Welt der modernen Lebensmittelbereitung.

Unter der Dusche verkünden schüchtern einige Lebensgeister von ihrer
Existenz. Allmählich kehrt das Licht- und Farbempfinden zurück und während
ich noch Wasserreste mit dem Handtuch beseitige, klingen Geräusche aus der
Küche, die von der Fertigstellung gestarteter Aufträge zeugen.

Die Kaffeemaschine piept und weist mich nervös auf ihren Status hin. Ich
schalte sie aus, greife nach einer Tasse und wende mich dem Kühlschrank zu,
um diesem etwas Milch zu entnehmen. Der frostige Kollege piept aufdringlich,
weil bei vorangegangener Entnahme der Mehlprodukte die Klappe von mir nicht
sachgemäß geschlossen wurde. Nun meckert der Bursch über steigende
Temperaturen. Pingeliges Teil. Trotz Behebung des Problems tönt er weiter.
Finde den Schalter zum Deaktivieren des Signales nicht.

Das Handy piept und weist mich auf einen bevorstehenden Termin hin.
Arztbesuch am Nachmittag. Check beim Heilkundigen für Kopfflossen. In der
letzten Zeit werde ich immer wieder von lästigen Pieptönen heimgesucht.

Apropos Piepen. Das lässt nun auch der Trockner hören und meldet damit
Vollzug.
Die Jeans ist in einem tragbaren Zustand. Ich entnehme das Beinkleid und
schlüpfe hinein.
Irgendwo piept es und die Ortung gelingt mir nicht auf Anhieb. Erst nach
einigen Irrläufen lässt sich der Wecker als Quelle ausmachen. Das
aufdringliche Biest will sich nicht mit meiner offensichtlichen Bettferne
begnügen und mahnt erneut zur Wachsamkeit. Die Taste zur dauerhaften
Schweigsamkeit lässt sich nicht finden.

Liegt zu großen Teilen daran, dass Rauchschwaden durch die Luft ziehen. Dies
geht Hand in Hand mit einer spürbaren Abnahme der allgemeinen Sicht- und
Luftqualität. Panik erfasst mich auf dem Weg zur Küche. Durch die
Nebelschwaden ist das Piepen der Mikrowelle zu hören. Nachdem der Weg zu der
Maschine ertastet ist, entnehme ich die qualmenden Brötchenbriketts der
Maschine und beschließe sie der nächsten Grillveranstaltung als
Holzkohleersatz zuzuführen.

Das Handy piept erneut und kündet freudig vom Empfang einer SMS. Irgendeine
Werbung. Hausratsversicherung oder so.

Der Kühlschrank sendet weiterhin seine monotone Botschaft und erneut schlägt
der Wecker an. Ich öffne das Fenster und entlasse die Rauchschwaden in die
Freiheit. Dabei versuche ich mich in einen seelenbaumelnden Zustand zu
versetzen. Das tiefe Durchatmen lässt mich allerdings in heftige
Hustenattacken verfallen. Unter gehauchter Pressatmung schließe ich die
Augen und zähle leise vor mich hin. Bei 497 ertönt lautstarkes Piepen.
Beinahe ein Heulen. Spät, aber bestimmt meldet sich der Rauchmelder im Flur
zu Gehör. Billigware aus dem Baumarkt. Sonst ein schweigsamer Geselle,
verfällt er nun in aufdringliche Anwesenheitsbekundungen.

In meinem Kopf tönt und pfeift es, als wäre die Jamba-Zentrale zwischen den
Ohren. Aus der Kehle dringt trockenes Lachen, das von resignativer
Verzweiflung zeugt.
Mit letzter Kraft taste ich nach dem Handy, um der Dispoberaterin meiner
Hausbank einen letzten Willen zu formulieren. Die Pläne scheitern, weil das
Handy noch einmal piept, um mir seinen kritischen Ladezustand zu
signalisieren und erlischt anschließend.

Irgendwo ertaste ich den Autoschlüssel und stürze aus der Wohnung.
Wohltuende Stille umgibt mich auf dem Platz hinter dem Steuer. Der Motor
startet und im selben Moment ist eine blinkende Warnlampe auf dem Display zu
sehen. Treibstoffvorrat neigt sich dem Ende zu. Der Kollege zapft nun die
Reserven an. Das Piepen mahnt mich zum baldigen Tankstellenbesuch.

Den verschiebe ich, lasse den Wagen am Waldrand stehen und flüchte in die
stille Einsamkeit der Natur. Irgendwo auf einer Lichtung findet sich ein
Platz zur besinnlichen Einkehr. Setze mich dort nieder und genieße die
Abwesenheit jeglicher Warnsignale. In naher Ferne sehe ich einen Traktor
seine Bahnen über die Felder ziehen. Bei jedem Erreichen der Ackergrenze
piept die Landmaschine…

© by P.H.

Donnerstag, 27. Oktober 2011

Daumen hoch

Friedhorst war ein echter Siegertyp. Wirklich. Nein, das hatte nichts mit seinem Vornamen zu tun. Zumindest nicht unmittelbar. Vielmehr war es seiner unwiderstehlichen Sogkraft gegenüber dem weiblichen Geschlecht geschuldet. Das manifestierte sich auch bei jener Sache mit Antonia. Die hatte ihn über diese Plattform aufgespürt, wo man sein Autokennzeichen hinterlegen kann. Das hat nun nichts mit Sympathiepunkten in Flensburg zu tun, ist eher so ein Flirtding. Kannst dein Nummernschild angeben und andere Verkehrsopfer, denen du in irgendeiner Weise aufgefallen bist, können dich dort ausfindig machen. Sei es zur Belehrung oder Lebensabschnittsbegleitungsanbahnung.

Friedhorst hatte von dieser Plattform in einem chinesischen Glückskeks gelesen und fand die Idee irgendwie cool. Spontan meldete er sich an. Getan hat sich da allerdings zunächst gar nichts. Nicht mal schnöde Absichtserklärungen zur körperlichen Züchtigung von irgendwelchen Feierabendschumis. Dann kam aber der Tag, als er in de Supermarkt fuhr und sich nicht entscheiden konnte, wo auf dem leeren Parkplatz er seinen rollenden Wertstoffhof abstellen sollte. Nach einigen Wendenmanövern fand er ziemlich zielsicher „Georgs Currytreff“. Wie beide, sowohl Georg, als auch Friedhorst, erkennen mussten, bot die Frittenschachtel keine hinreichende Parkfläche, um einen handelsüblichen Mittelklassewagen kollateralschadensfrei in dem Verkaufsraum unterzubringen. Glücklicherweise blieb es lediglich bei Materialdefekten und dem Bad in der Menge für Friedhorst. Herbeigeströmte Passanten hatten sein Manöver mit anerkennendem Rufen und stehenden Ovationen gewürdigt. Irgendwo in dieser Menge hatte sich auch Antonia befunden. Die, die ihn dann später über das Kennzeichen aufspürte.

„Bin auch bei wkw“, hatte er ihr geantwortet.
Augeschrieben lautet das: „Wer kennt wen“. Ist so eine Plattform, auf der dich Menschen in ihre Freundesliste einladen, von denen Du hofftest, du würdest ihnen nie wieder begegnen. Weder real noch virtuell.
Ok, das war bei Antonia anders. Die fand er echt nett. Gemeinsam waren sie dann federführend in eine dieser Gruppen tätig gewesen: Züchtung von Brunnenkresse in deofreien Achselhöhlen oder so.

Nicht lange, dann glaubte er rosafarbene Wattewolken in der Magengegend zu spüren und vertraute ihr an, auch bei facebook registriert zu sein. Antonia zeigte sich erleichtert, waren ihr doch bereits erste Zweifel gekommen, einen medialen Outlaw aufgesessen zu sein. Nein, Friedhorst war ganz offensichtlich ein Kerl, der mitten im Leben stand. Geradezu gerührt war sie, als er das Foto von 2 qm Hund auf der A5 an ihre Pinnwand postete und mit „Asphaltdeko“ betitelte. Daumen hoch und „gefällt mir“ hatte sie sogleich kommentiert.

Das mit den Daumen ist so ein facebook-Ding. Daumen, die himmelwärts zeigen gibt es hier waggonweise und inzwischen nicht nur da. Eigentlich überall. Manchmal träume ich schon davon. Angeblich träumen Menschen ja immer. Ist nur nicht stets bewusst. Jedenfalls, wenn ich so einen bewussten Traum habe, dann kann der schräg sein. Erotisch oder einfach nur abgefahren. Kommt schon mal vor, dass ich am Ende der mentalen Kinoaufführung im Abspann nach dem Daumen suche. Zumindest wenn die Bilderflut unterhaltsam war.
„Gefällt mir“, Steht unter dem Finger. Soll heißen, dass du das cool findest, was du da siehst und es gibt nichts, was nicht einen Fanclub hätte. Also, kannst beispielsweise den Morgenauswurf deiner tuberkulosekranken Schwiegermutter in Full-HD filmen und dort an die virtuelle Wand tackern. Garantiert wird sich sehr schnell eine Gemeinde finden, die dich als neuen Messias expressiver Alltagskunst feiert oder so.
Egal.

Jedenfalls kam es, wie es kommen musste: Er lud sie nun auch zu Twitter ein. Die Sache begann allmählich intime Züge anzunehmen und sie fühlte sich in hohem Maße geschmeichelt. Nun vermochte Antonia jede seiner Aktivitäten zu verfolgen, denn Twittern ist so etwas wie der Kommunikationsolymp.
Stehst mit deinem Handy im Aldi und fragst die Gemeinde um Rat – real time:
„Soll ich das feuchte Toilettenpapier in ungebleichter Ausführung oder das mit Aloe Vera erwerben?“
Klar, früher hast du solche Entscheidungen selbst getroffen. Retrospektiv betrachtet geradezu fahrlässig, wenn es doch Menschen gibt, die auf dem Gebiet der Hygiene verlängerter Rückenmarksregionen über einen Erfahrungshorizont verfügen, der deinen um ein Vielfaches übersteigt.

Jedenfalls wollte ihr Friedhorst nun auch seine künstlerische Schattenseite offenbaren. Er war äußerst musikalisch und vermochte täuschend echt den Gesang von paarungswilligen Süßwasseralligatoren nachzuahmen. Dazu ließ er begleitend Händels Wassermusik klingen. Ein audiophiles Kleinod. Antonia konnte sich gar nicht satt hören, nachdem sie seiner Einladung auf MySpace gefolgt war.
Zur Erklärung sei gesagt, dass Myspace in erster Linie auf Kreative abzielt. Künstler. Hauptsächlich Musiker und so. Hier findest du beispielsweise Menschen, die „Old MacDonald had a farm“ rückwärts rülpsen können.
Das nur nebenbei.

Letztendlich war es irgendwann so weit und es kam zum Showdown im Messenger. Terminkalender wurden befragt und Wagen betankt. Die beiden haben sich getroffen. Also real. Saßen sich in der Autobahnraststätte gegenüber. Bei Automatenkaffe und Roland Kaiser aus den Deckenlautsprechern.
„Wie war die Fahrt?“
„Ok.“
„Deine?“
„Auch ok.“
„Und sonst?“
„Gut und selbst?“
„Passt schon, muss ja.“
„Schön.“
„Du, bin auf dem Sprung.“
„Ja, ich auch.“
„Wir lesen uns.“
„Klar.“

So schnell, wie sie erschienen waren, verschwanden auch beide wieder. Jeder für sich und gleichermaßen erleichtert. Erleichtert darüber, dass diese Begegnung ohne weitere Folgen geblieben war.
Wie auch immer - der Kontakt zwischen ihnen blieb bestehen und wurde zu einem Bestandteil beider Tagesroutinen - auch wenn Antonia nach anderen Kennzeichen schielte und Friedhorst eimerweise chinesische Glückskekse konsumierte.

Montag, 24. Oktober 2011

Endstation Sehnsucht

Der stählerne Wurm schlängelt sich in rasendem Tempo durch dunkle Röhren unterhalb der Stadt. In regelmäßigen Abständen stoppt er seine Fahrt, öffnet Luken, entleert Teile seines Inhaltes und erhält neue Füllung. Immer und immer wieder.
Ein mechanischer Wiederkäuer, gefangen in der Endlosschleife, denkt Anna und schüttelt sich bei dem Gedanken, im Verdauungstrakt eines künstlichen Wesens durch unterirdische Höhlen geschossen zu werden – als Bestandteil eines gewaltigen Stoffwechsels. Fest umklammert sie die Haltestange und konzentriert sich auf das rhythmische Geräusch der Räder, die über Schwellen tanzen. Der Takt verliert an Geschwindigkeit, wird leiser und verschwindet schließlich ganz, als der Zug die nächste Station anfährt.

In den Wagon kehrt mit einem Mal geschäftige Bewegung ein. Viele der Fahrgäste geben besetzte Plätze auf und drängen zu den Türen. Anna presst sich zwischen entgegenkommenden Körper hindurch und steuert eine der freiwerdenden
Sitzgelegenheiten an. Mit einem Seufzer lässt sie sich in das dünne Polster fallen
und befördert mit der Rechten die Tüte an ihrer Seite auf die Knie.
„Schmutzige Wäsche – unser Geschäft!“ prangt in weißen Lettern auf der
Plastiktasche.
Anna hebt eine Seite an und lässt ihren Blick prüfend über den Inhalt gleiten. Der Stapel
weißer, in Zellophan gepackter Hemden hat von seiner Ordnung eingebüßt. Die
Textilien liegen nicht mehr Kante auf Kante. Befürchteter Kollateralschaden. Eine Folge
der drängenden Enge in dem Zug. Sie wird die Kleidung zu Hause nochmals
bügeln müssen. Hermann wird die Falten in den Hemden bemängeln und sie
nachdrücklich auf die Behebung des Missstandes hinweisen.
„Mit diesem Faltenrock kann ich meinen Kunden nicht unter die Augen treten,
Liebes. Das verstehst du doch?“
Sie würde schuldbewusst nicken, das Bügeleisen aus dem Schrank nehmen und
sich, unter seinen prüfenden Blicken, sofort an die Arbeit begeben.
Selbstverständlich sollte Hermann mit einwandfreier Oberbekleidung auftreten. So, wie es ihr seine Mutter einst gelehrt hatte. Damals, als sie mit seinem Sohn die erste gemeinsame Wohnung bezog - unmittelbar nach der Hochzeit. Gerda hatte ihr einige wohlmeinende Instruktionen auf den Weg gegeben.
„Siehst du hier – immer Kante auf Kante und dann von der Mitte nach außen
bügeln.“
Anna hatte es sehr schnell gelernt – selbst unter den kritischen Augen der Schwiegermutter. Und innerhalb kürzester Zeit waren die Ergebnisse ihren Ansprüchen gewachsen gewesen.
„Naja, ganz ordentlich“, hatte diese schließlich kommentiert, aber der Unterton in ihren Worten war keiner, der von aufrichtige Anerkennung durchtränkt schien.

Anna lauscht dem kraftvollen Summen des Elektromotors, als der Zug wieder Fahrt
aufnimmt und in kürzester Zeit die vorgesehene Höchstgeschwindigkeit erreicht. Dumpf dringt ein polterndes Geräusch durch die Wände des Wagons, da dieser im nächsten Moment einige Weichen passiert. Leichte Beben folgen, die die Fahrgäste vibrieren lassen. Keiner der Anwesenden zeigt sich beeindruckt. Der ältere Herr zu ihrer Linken ist immer noch in seiner Ausgabe der Tageszeitung versunken und das Paar, wenige Sitzreihen weiter, verharrt im Stadium eines scheinbar endlosen Kusses. Niemand der
Mitfahrenden scheint Notiz von der lippenverwobenen Gefühlseinheit zu nehmen. Interessiert bemerkt sie, dass der männliche Teil des Paares ein dunkles Shirt trägt. Kein Hemd und auch nicht weiß.
Was, wenn das Bügeleisen heute kalt bliebe?, schießt es ihr plötzlich durch den Kopf.

Jäh wird Anna in ihren Gedanken aufgeschreckt, als mit einem Mal die rasante Fahrt unterbricht und der Zug unter ohrenbetäubendem Quietschen zu einem Bremsmanöver ansetzt. Ein dumpfes Poltern ertönt während die Bahn zum Halten kommt, gefolgt von einem Ruck, der die Kabine erfasst und sämtliche Fahrgäste den Gesetzen der Massenträgheit folgen lässt. Mit entsprechenden Folgen - einige rutschen von den Sitzen und finden sich, unsanft gelandet, auf dem Wagenboden wieder oder in unfreiwilligem Körperkontakt mit der gegenübersitzenden Person. Stehende Mitreisende, die sich nur mangelhaft Halt verschafft hatten, werden stolpernd und fallend von einer unsichtbaren Leine durch den Wagon gezogen. Schreckensrufe, Flüche und vereinzeltes Lachen mischen sich mit aufkommendem Stimmgewirr. Amüsiert beobachtet Anna das Treiben, zufrieden mit ihrer Entscheidung, einen Sitz gegen die Fahrtrichtung gewählt zu haben. Lediglich ein unbeabsichtigtes Kopfnicken hatte das Bremsmanöver bei ihr ausgelöst, als sie für einen kurzen Moment in den Sitz gepresst wurde. Ebenso mag es dem älteren Herren neben ihr ergangen sein, der nun seine Zeitung zusammenfaltet und aus dem Fenster starrt.
„Nicht schon wieder“, murmelt er vor sich hin.
Bevor Anna seinen Gedanken folgen kann, ertönt ein kurzes Knacken in den Lautsprechern des Wagens, die eine Durchsage ankündigen.
„Wir bitten um Entschuldigung für diesen Nothalt. In wenigen Minuten wird die Fahrt fortgesetzt. Verlassen Sie nach Möglichkeit ihre Plätze nicht.“
Anna starrt nun auch durch das Fenster in Richtung des Triebwagens. Im Halbdunkel der Röhre lassen sich allerdings nur schemenhafte Strukturen ausmachen. Es scheint, als hätte der Zugführer seine Kabine verlassen, da die Türe zu seinem Kontrollstand offen steht. Sekunden vergehen ohne erkennbare Bewegung im Tunnel, als der wippende Schein einer rasch näher kommenden Taschenlampe erkennbar wird. Der Lichtkegel kreist über die Wände des Schachtes und für einen Moment wird die Gestalt einer Person sichtbar, die sich in kniender Position auf den Gleisen befindet.
„Hm“, hört sie plötzlich die Stimme ihres Sitznachbarn, „das ist schon der Zweite in dieser Woche.“
„Der Zweite?“, fragt Anna.
„Ja, die spazieren in einen dieser Tunnels, setzen sich auf die Schienen und hoffen, dass es schnell geht.“
Sie sieht ihn an und bemerkt, wie eine ernste Mine das faltige Gesicht des älteren Herren besetzt hat. Mit einer Hand reibt er sich über die Stirn.
„Aber, das ist ja schrecklich“, entfährt es Anna.
„Gute Frau, das ist es. Schlimm, dass manche Menschen den letzten Vorhang frühzeitig fallen lassen. Schrecklich, dass ihr Schlussakkord einem unfreiwilligem Publikum durch Mark und Bein fährt.“
Anna nickt nachdenklich.
„Was passiert jetzt?“
„Nun, er wird abtransportiert und vermutlich irgendwo untergebracht. Weg von dieser dunklen Bühne.“
Anna wendet den Blick ab und betrachtet die Tüte, die auf ihren Beinen ruht.
„Schmutzige Wäsche – unser Geschäft!“, prangt immer noch in großen Lettern auf dem Plastik. Gedankenversunken streicht sie darüber. Nur wenige Momente, dann geht erneut ein Ruck durch den Wagen und der Zug nimmt wieder Fahrt auf.

Bald erreichen sie die übliche Reisegeschwindigkeit – als hätte es keine Unterbrechung gegeben. In der Kabine bewegt sich die Atmosphäre rasch in Ausgangslage zurück. Vereinzelt tuscheln Reisende miteinander und wiegen ernst die Köpfe. Das in Leidenschaft entbrannte Paar hält sich nun umarmt und ein ziemlich finster dreinblickender Mann mittleren Alters scheint sie mit dem körpereigenen Radar erfasst haben. Typ potentieller Geiselnehmer, wie sie mit Abscheu bemerkt. Kaum möglich, seinen durchdringenden Blicken zu entgehen, die er aus türnaher Position in ihre Richtung sendet. Blicke, wie sie auch Hermann von Zeit zu Zeit an den Tag legt. Üblicherweise in den frühen Abendstunden eines Wochenendtages.
„Liebes, kommst Du bitte?“, sagt er dann und schlägt die Bettdecke auf, unter der er sich bereits in einem erregten Zustand befindet. Was dann folgt, ist ein mechanisches Lustspiel von kurzer Dauer, dem sich unmittelbar danach lärmende Schlafgeräusche aus seinem halb geöffnetem Mund anschließen. Immer häufiger ertappt sich Anna inzwischen dabei, wie sie sich vorstellt, eines der gestärkten Kopfkissen auf diese Geräuschquelle zu drücken. So lange, bis kein Laut mehr zu hören ist.

Schlagartig wird sie aus den Gedanken gerissen, als eine schnarrende Stimme blechern den kommenden Haltepunkt verkündet:
„Nächste Station Hoffnungsring. Für die Anschlüsse Richtung äußerer Zirkel
bitte umsteigen.“
Sie späht durch die Scheibe, hinter der das Dunkel mit einem Mal Helligkeit weicht, als der Zug in die Station einfährt und deutlich an Fahrt verliert, bis er mit einem Ruck zum Stehen kommt. Menschen greifen nach Taschen, Hüten, Zeitschriften und befördern sich mehr oder weniger schwungvoll in die Höhe. Auch der ältere Herr neben ihr erhebt sich. Freundlich nickt er Anna zu.
„Wünsche noch eine gute Reise. Mögen sie ihr Ziel wohlbehalten erreichen.“
Sie lächelt.
„Danke, das werde ich.“
Dann passiert er sie und steuert den Ausgang an. Mit einem Zischen schwingen die Pforten der stählernen Transporthülle auf und entleeren menschlichen Inhalt auf die steinerne Plattform der Station. Neue Zielsuchende strömen hinein.
Zu ihrer Erleichterung bemerkt sie, dass auch der finstere Fahrgast mit dem hungernden Blick den Zug verlässt. Nicht, ohne sie vorher noch einer visuellen Ferninspektion unterzogen zu haben.

„Verzeihung, ist hier frei?“
Anna zuckt zusammen, als sie eine Berührung an der Schulter verspürt, den
Kopf hebt und in das Gesicht eines Mannes schaut, der sich als Inhaber eines
Paar blauer Augen entpuppt, die ziemlich neugierig unterhalb eines blonden
Schopfes ihren Blick suchen.
„Äh…ja, aber sicher.“
Sie kann spüren, wie die Überraschung verlegene Röte in ihr Gesicht strömen
lässt und blickt zu Boden, während der Fahrgast Position auf dem gegenüberliegenden Platz bezieht.
„Ich wollte ihnen keinen Raum streitig machen, da es wirkte, als wollten sie
die Tüte auf dem Sitz platzieren“, bemerkt der Mann.
„Oh, nein. Hatte sie nur auf den Knien, damit der Inhalt nicht verknittert.“
Lächelnd mustert er sie.
„Wertvolle Textilienfracht, wie ich der Verpackung entnehme.“
„Nur einige Hemden“, entgegnet Anna in scheinbarer Gleichgültigkeit.
„Nun, für manche einfach nur Hemden, für andere Ausdruck ihrer Persönlichkeit.“
„Na, so weit würde ich nicht gehen“, entgegnet sie lachend, „ist nur etwas Stoff.“
„Sie sagen es“, antwortet der Mann grinsend.
Dann wendet er den Blick ab und lässt ihn durch den fahrenden Raum wandern. Anna beobachtet ihn dabei und registriert seine wachen Augen, die neugierig von Mitreisenden zu Mitreisenden wandern. Dabei verziehen sich hin und wieder seine Lippen zu einem Lächeln und entblößen Reihen makelloser Zähne. Fasziniert von dieser kindlich anmutenden Neugier vermag Anna kaum den Blick von diesem Mann zu lösen. Zudem, so muss sie sich eingestehen, übt er mit seiner Erscheinung eine magnetisierende Wirkung auf ihre Wahrnehmungsorgane aus. Nicht übermäßig groß und breitschultrig, wie es das klassische Bild eines knieerweichenden Mannes wäre, aber mit einer Ausstrahlung von positiver Offenheit versehen, die sie in den Bann schlägt.
Mit einem Mal greift ihr Gegenüber in die Tasche seiner Jacke und zieht einen Bogen Papier heraus. Er legt ihn auf die Oberschenkel und beginnt diesen zu falten. Vorsichtig gefühlvoll und mit großem Geschick bewegen sich dabei seine Finger.
Anna beobachtet ihn fasziniert und beginnt sich zu fragen, welchem Zweck diese Tätigkeit dienen könnte. Immer weiter faltet der Mann das Papier, wendet es und entfaltet an anderer Stelle wieder. Sein Blick konzentriert und die Hände gekonnt in Dialog mit dem Material.

Minuten vergehen und Anna ist so vertieft in die Beobachtung der handwerklichen Einlage des Mannes, dass sie ihrer Umgebung keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken vermag. Er vollführt noch einige Kunstgriffe, legt dann das Endprodukt auf eine seiner Handflächen, hebt den Kopf und lächelt sie an.
„Das ist für Sie.“
Anna zuckt zusammen, da sie sie sich wie aus einem Trancezustand gerissen fühlt und benötigt einen Moment, um das Objekt auf seiner Handfläche zu realisieren.
„Oh…danke.“
Nicht detailgetreu, was dem Material geschuldet sein mag, aber unzweifelhaft zu erkennen ist die Gestalt einer Katze. Kopf, Körper, Beine und Schwanz zu einer Papierskulptur gefaltet.
Sie nimmt das Werk zwischen ihre Finger und lächelt verlegen.
„Das ist toll. So etwas habe ich noch nie gesehen. Wie kommen Sie dazu?“
„Ist nur so ein kleiner Zeitvertreib. Versuche, Ideen eine Form zu geben.“
Im selben Moment reicht er ihr eine Hand, die sie einem Reflex folgend, ergreift.
„Jan – mein Name, und Deiner?“
Zu ihrer eigenen Verblüffung antwortet sie spontan:
„Anna.“
„Hallo Anna - wusstest Du, dass Katzen besondere Wesen sind? Sie sind nämlich in beiden Welten zu Hause – in dieser hier und dem Schattenreich. Wir Menschen können das nicht und daher fehlt uns oftmals der umfassende Blick für die Dinge.“
„Oh, das wusste ich nicht“, bemerkt Anna nachdenklich, „das erklärt auch, warum sie nicht wirklich zu zähmen sind.“
„Niemand sollte das sein, Anna“, entgegnet Jan und mustert sie aufmerksam aus seinen blauen Augen, in denen sie eine Tiefe zu entdecken glaubt, dass ihre Gedanken zu Sturzbäche in diese werden.
Mühsam reißt sie sich aus der Versenkung, hebt den Blick und realisiert, dass sich der Wagen inzwischen weitestgehend geleert hat. Nur noch wenige Menschen halten die Bänke besetzt. Einzelne Reisende, die in das vorbeihuschende Halbdunkel starren. Wieder lauscht sie dem rhythmischen Rattern der Räder und wieder verlangsamt sich der Takt, als der Zug die nächste Station anfährt.
Blechern hallt die Stimme aus den Lautsprechern von der Decke:
„Endstation Sehnsucht. Der Zug stoppt hier. Bitte aussteigen. Für die Anschlüsse Richtung innerer Zirkel bitte umsteigen.“

„Lass uns gehen“, sagt Jan und greift nach Annas Hand. Sie fasst die seine und lächelnd verlassen sie den Wagen. Keiner von beiden wirft einen Blick zurück, als sie die Rolltreppen betreten und sich aus dem Halbdunkel der unterhöhlten Stadt tragen lassen. An der Oberfläche strahlt die Sonne vor einem nahezu wolkenfreien Himmel. Und wahrend beide die wärmenden Strahlen auf den Gesichtern genießen, durchschreitet einige Meter unter ihren Füßen gerade ein Bahnführer die Wagen seines Zuges - vorbei an leeren Sitzreihen. Kopfschüttelnd sammelt er all die Gegenstände auf, die liegengelassen wurden. Neben achtlos weggeworfenem Verpackungsmaterial und Werbebroschüren großer Elektrofachmärkte befindet sich diesmal auch eine Tüte. Eine Tüte, auf der in großen weißen Lettern ein Slogan prangt:
„Schmutzige Wäsche – unser Geschäft!“

Samstag, 22. Oktober 2011

Trisexualität

Johanna trägt ein knallrotes Shirt mit weißer Aufschrift - "Open your mind".
Passt zu ihrem rabenschwarzen Haar und den dunklen Augen. Spannender Kontrast.
Sie setzt das Glas an und schüttet sich den Drink in die Kehle. Ein Gemisch aus Cola und Jim Beam. Keine Ahnung, wie viele von den Dingern schon den Weg in ihre Figur gefunden haben, aber mir wären inzwischen sämtliche Dichtungen abgesprungen.
Johanna grinst nur und schüttelt sich kurz.
"Bist ja ein brauchbares Stück Kerl. Meinst Du, es könnte passen?"
Ich zucke mit den Schultern und versuche ihrem unruhigen Blick zu folgen. Irgendwie gehetzt. Wandert ständig zwischen Theke und Kellner hin und her.

"Na ja, immerhin schreiben wir uns schon eine ganze Weile und dann die unzähligen Telefonate. Hatte den Eindruck, dass wir gegenseitige Zeitverwertungsrechte erheben könnten."
Ihre Augen verlieren an Fahrt und bleiben an meinen haften.
"Aber die entscheidenden Fragen haben wir noch nicht geklärt", entgegnet sie und setzt eine Miene auf, die Vertragsverhandlungen anzukündigen scheinen.
"Welche Fragen wären das?"
"Sex und so."
"Was ist damit?
Johanna beugt sich herüber und ihre Stimme senkt sich verschwörerisch.
"Wie ist denn Deine Ausrichtung?"
Ich vermute, dass die Frage nicht auf meine politische Gesinnung abzielt.
"Hetero...oder was meinst Du?"
Johanna lässt verächtlich Luft durch aufgeblasene Backen entweichen.
"Puh...wie öde. Wahrscheinlich kaufst Du sonntags auch noch Brötchen zum Frühstück..."
"Äh...ich mag frische Brötchen..."
Ihr Blick hat zerstörenden Charakter.
"Bin trisexuell."
"Hä?"
"Maaan", entfährt es ihr, "t-r-i-s-e-x-u-e-l-l."

Mir scheint, als würde die Achse der Unwissenheit mitten durch unseren Tisch verlaufen.
"Wie meinst Du das?"
"Könnte glatt meinen, Du bist geistig ein wenig minderbelüftet", spottet Johanna.
Offensichtlich hat sie meinen hilflosen Gesichtsausdruck bemerkt.
"Soll heißen, Männer, Frauen und mich. Trisexuell eben."
"Aha...da wird es aber eng im Schlafzimmer...."

Johanna schiebt den Stuhl zurück.
"Das wird dann wohl nichts mit uns", sagt sie und steht auf.
Eine kurze Verabschiedung, dann bewegt sich ihre Silhouette zum Ausgang.
Ich mag mich täuschen, aber mir scheint, als hätte sie dabei die Hand in ihrem Schritt.
Egal.
Am Sonntag gibt es Brötchen.
Frisch aus der Maschine. Warm und verboten lecker duftend.

© by P.H.

Freitag, 21. Oktober 2011

Jäger lichtscheuer Existenzen


Ein mieser Tag. Ein bemerkenswert mieser Tag. Zuerst hatte Carmen verschlafen und war viel zu spät im Büro erschienen. Klar, dass der Boss die Gelegenheit nutzte, um ihr wieder mal eine gepflegte Standpauke zu verabreichen. Die übliche Leier. Thematisch irgendwo zwischen Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit oszillierend. Den exakten Inhalt hätte Carmen gar nicht mehr wiedergeben können. Sie hatte sich längst angewöhnt, seiner verbalen Materialschlacht mit ambossartiger Gelassenheit und einem heruntergefahrenen Aufnahmesystem zu begegnen.
Dann hatte Mutter angerufen und von ihrer Arthrose erzählt. Gefühlte Spielfilmlänge. Mindestens „Ben Hur“ und mit diesem vorwurfsvoll jammernden Unterton. Als würde ihr Dasein nur dem Zweck dienen, alles Leid dieser Welt in sich zu bündeln. Während die Worte durch die Freisprecheinrichtung tropften und Carmen hin und wieder ein „Oh“ oder ein „Ach“ einwarf, hatte sie die Gelegenheit genutzt und ihre Fingernägel auf Blickfangniveau lackiert. Feuerrot. In gar nicht unbeabsichtigter Signalwirkung für das anstehende Date. Unrentable Kleinkunst, denn hätte Carmen gewusst, dass sie am Abend eine halbe Ewigkeit in diesem Club sitzen und erfolglos auf Arnd warten würde, hätte sie sich die künstlerischen Aktivitäten an ihren Fingerenden erspart. Eigentlich waren sie verabredet gewesen, aber Hoheit hatte es vorgezogen, nicht zu erscheinen. Einfach so. Ohne Absage und ihre Anrufe auf seinem Handy blieben unbeantwortet.

Irgendwann, zwei Cocktails später, hatte sie ziemlich missmutig den Laden verlassen und war zu ihrem Auto gegangen. Nicht, dass ihr der Tag schon genug an Frustsouvenirs eingebracht hatte, zu allem Überfluss gab es dann auch noch ein Problem mit dem Wagen. Heute blieb ihr nichts erspart. Nicht mal dieses Telefonat mit dem Polizeinotruf:
„Hallo?“
„Ja, was kann ich für sie tun?“
„Meine Handtasche liegt im Kofferraum und ich komme nicht heran!“
Der Typ am anderen Ende der Leitung wirkte etwas gereizt:
„Gute Frau, sie haben die Polizei gerufen. Was sollen wir da, ihrer Meinung nach, unternehmen? Ist sie denn gestohlen worden?“
„Nein, das ist es nicht. Komme da einfach nicht heran…“
„Wollen sie mich auf den Arm nehmen?“
Carmen schnaubte entnervt.
„Hören sie, mein Tag war echt beschissen. Nach Scherzen ist mir mal gar nicht. Alles, was ich will, ist diese dämliche Tasche. Geht aber nicht, weil da so eine blöde Leiche drauf liegt.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte für einen Moment besinnliche Stille, bevor die Stimme erneut ansetzte:
„Ist das ihr Ernst oder wollen sie mich veralbern?“
„Man man, sie sind doch zuständig für biologische Totalausfälle oder nicht? Kein Ahnung, wie das in meinen Wagen gelandet ist. Jedenfalls komme ich gerade aus dem Club, wollte meine Handtasche aus dem Kofferraum holen und da liegt nun dieser Erdmöbelkunde. Ziemlich bleich und vom Lebensspielfeld genommen. Mal abgesehen davon - wissen sie, was so eine Prada-Tasche kostet? Ein Vermögen! Was, wenn die nun hin ist? Wie ich die Versicherung kenne, werden die mir nicht einen Cent erstatten!“
Nach einem weiteren Moment des Schweigens, schien der Typ am anderen Ende die Lage zu erfassen:
„Ok, hoffentlich ist das ist keine Scherz. Fassen sie bitte nichts an. Ich schicke das Team von der Spurensicherung heraus. Wo ist ihr Standort?“
„Der Parkplatz vor dem Club Andromeda.“
„Gut, kennen wir. Bleiben sie an ihrem Wagen. Meine Kollegen sind in einigen Minuten vor Ort.“
Dann legte er auf.
Entnervt schlug Carmen den Kofferraumdeckel des silbernen Alfas zu und lehnte sich wartend gegen den Wagen.

Als würde eine Hummel auf dem Rasierapparat surfen. So etwa klang es in Pauls Ohren, als das Handy auf dem Nachttisch um Aufmerksamkeit summte. Der Vibrationsalarm versetzte das ganze Möbel in Schwingung. Kaum zu überhören, selbst mit einer Schlafdosis weit unter der empfohlenen Mindestmenge.
In einem nur halbherzigen Kampf gegen die Mächte der Müdigkeit schälte sich Paul halbseitig aus der wärmenden Daunendecke hervor und fuhr tastend die Hand aus. Nach einigen Fehlversuchen fanden seine Finger den digitalen Störenfrieden. Bedächtig führte er die Sprachmaschine ohrenwärts und betätigte dabei die Plappertaste.
„Maan…jetzt bin ich aber gespannt…“
„Paul?“, tönte es aus der Leitung, „bist Du wach?“
„Selbstverständlich…welcher Irre käme auf die verwegene Idee, nachts zu schlafen?“
„Anna hier. Sorry, aber es gibt Arbeit - Leiche im Kofferraum eines Alfas. Parkplatz vor dem Andromeda.“

In einem Sinkflug durch den Nebel der Erkenntnis begannen sich Pauls Gedanken zu sortieren. Anna, seine Partnerin im Morddezernat. Eine hübsche Erscheinung mit langen, roten Haaren, grünen Katzenaugen und ziemlich weiblicher Silhouette. Immer voll übersprühender Energie, starrköpfig und phasenweise eine wandelnde Materialprüfung für Nervenstränge.
„Soll bei italienischen Pastaschüsseln des Öfteren vorkommen…“
„Na ja, die Besitzerin des Wagens ist ziemlich uneuphorisch. Fährt üblicherweise keine Leichen durch die Landschaft. Klingt für mich recht glaubwürdig“
Paul dachte kurz nach und kam zu der Erkenntnis, dass Kofferräume nicht das gängige Biotop für Leichen sind. Egal welcher Wagentyp.
„Ok, bin auf dem Weg.“
Er beendete das Gespräch und warf die Sprachmaschine wieder auf dem Nachttisch ab.

Fluchend dirigierte Paul seine Beine aus dem Bett und bezog sitzende Position auf der Bettkante. Träge massierte er seine Schläfen, während der Denkapparat das Programm zur örtlichen und zeitlichen Orientierung startete.
Durch die heruntergelassenen Jalousien im Schlafzimmer drang lediglich das Licht der Straßenlaterne und der Blick auf den Radiowecker ließ ihn stöhnend den Kopf schütteln. 1:23 Uhr – eine Zeit, in der sich lediglich Gesetzeshüter auf der Straße herumtrieben und solche, die denen aus dem Wege zu gehen versuchten.

Er stemmte sich in die Höhe und verharrte einen Moment in dem Stadium horizontalen Standes, bevor er tastend aus dem Zimmer wankte, den Flur passierte und den Lichtschalter vor dem Badezimmer betätigte
Die plötzliche Helligkeit ließ ihn blinzeln und nur bruchstückhaft ein mit Schlaf unterversorgtes Gesicht im Spiegel erkennen. Die kurzen, dunkelblonden und vereinzelt ergrauenden Haare standen wirr auf dem Kopf und dunkle Ringansätze zierten die untere Augenpartie. Für die Endrunde des „Sexiest Man Alive“ hätte es vermutlich nicht gereicht. Musste es auch nicht. Paul war Ganovenschreck in Staatsdiensten. Mordkommission. Schon seit 21 Jahren und das durchaus erfolgreich. Aufklärungsquote nahe 100%. Sicherlich nicht nur ein Verdienst des skalpellscharfen Verstandes, dem man ihm nachsagte, sondern auch der Zähigkeit. Anders gesagt: Hatte er sich einmal in einem Fall verbissen, vermochte er kaum abzulassen, bis dieser geklärt war. „Zecke Paul“, flüsterten sie dann hinter seinem Rücken und glaubten, er würde es nicht hören. Paul empfand dies durchaus als Kompliment und registrierte es mit einem heimlichen Grinsen.

Er bezog Platz vor dem Waschbecken, drehte das warme Wasser auf, ließ eine Handvoll Nass mit seinem Gesicht Kontakt aufnehmen und fuhr sich dann durch die Haare. Mit einer Bürste brachte er diese in Form und befand sich, nach einem prüfenden Blick in den Spiegel, für halbwegs gesellschaftstauglich. Die belebende Wirkung der Maßnahmen schien nun auch das Blau seiner Augen einen Hauch wacher erscheinen.
Paul ging zurück in das Schlafzimmer, fischte einige Kleidungsstücke aus dem Schrank und streifte diese über. Die zu erwartenden Temperaturen in dem Sommermonat ließen ihn ein T-Shirt zu der üblichen Jeans hinreichend erscheinen. Mit seinen 42 Jahren machte er in dieser Ausstattung immer noch eine gute Figur. Die regelmäßigen Besuche im Trainingsraum des Polizeireviers hatten zu sichtbaren Resultaten geführt. Auf gut 180 cm Länge tummelten sich nur wenige, erkennbare Kohlehydratspeicher und der muskulöse Oberkörper ließ erahnen, dass der Besitzer einen festen Händedruck zu erwidern wusste.

Paul prüfte den Sitz seiner Dienstwaffe am Gürtel, angelte die Schlüssel vom Haken, löschte alle Lichter, öffnete die Tür, trat hinaus und zog sie hinter sich zu.
Die Luft war klar und frisch. Dennoch war es warm. Ein wenig, als hätte jemand die Tür des Tagesbackofens geöffnet gelassen und die Restwärme würde sich nun mit der Nachtluft mischen. Bei dem Gedanken musste er grinsen. Kurz hielt er inne und sog die Luft in sich auf. Die Stille ließ ihn dabei nichts als das Geräusch seiner Atemzüge hören. Eine irritierende Stille. Kein Straßenlärm, keine vorbeihuschenden Menschen, nicht einmal der Klang musizierender Federtiere war zu vernehmen. Als hätte jemand die Mute-Taste gedrückt. In diesem Moment wurde Paul von einem kalten Lufthauch im Nacken gestreift und für einen Augenblick schien die Straßenlaterne vor dem Haus zu flackern. Er schüttelte sich und schob die irritierende Wahrnehmung beiseite.
„Kein Wunder, wenn man unterkoffeiniert und im Schlafdefizit aus dem Haus stürzt“, schoss es ihm durch den Kopf.

Paul lenkte seine Schritte zum Auto. Der alte Diplomat war in unmittelbarer Nähe geparkt. Sicher kein zeitgemäßer Untersatz mehr, aber bisher hatte er sich von dem Wagen nicht trennen können. Das Ding war unhandlich, schluckte Sprit wie ein Passagierflugzeug und verschlang ein Vermögen für die Wartung. Andererseits liebte er den Sound des Achtenders unter der Motorhaube und jenes sanfte Schaukeln der Karosserie, wenn man über die Landstraßen glitt. Außerdem hatte er Charakter. Etwas, das ihm bei den Einheitsgefährten neuerer Produktion zu fehlen schien.

Paul entriegelte die Wagentür und ließ sich auf den Fahrersitz gleiten. Mit basslastigem Blubbern startete die Maschine. Er lenkte aus der Parklücke, fischte eine Zigarette aus der Packung, die er sicherheitshalber immer auf der Ablage bereit hielt und zündete diese an. Gierig sog er den Rauch ein und genoss die belebende Wirkung. Ein Laster, das er sich bisher noch nicht abgewöhnt hatte. Er hasste Abhängigkeiten und wusste um die biologiefeindlichen Auswirkungen des Tabaks, hatte aber trotzdem noch nicht genug Willensstärke aufbringen können, dem blauen Dunst zu entsagen. „Irgendwann“, sagte er sich stets und wusste, dass das handelsübliche Motto aller Süchtigen war.

Beherzt drehte er an dem Lautstärkeregler des Soundsystems. Wummernde Beats mischten sich nun mit dem kraftvollen Klang der großvolumigen Maschine. „Wir sind die Nacht“, ließ eine Frauenstimmer hören, gefolgt von pulsierendem Klängen. Selten schien ihm der Track von Covenant passender als in diesem Moment und während er seinen Oberkörper zu dem Rhythmus mitschwingen ließ, fühlte er die Lebensgeister an die Türen seiner Denkstube rütteln. Tatsächlich begann allmählich so etwas wie ein Wohlgefühl in der Bauchregion Platz einzunehmen.
„Irgendwie ziemlich cool“, fuhr es ihm durch die Gedanken.
Ein Kerl mit seinem Wagen über leere Straßen gleitend, Glimmstengel im Lippeneck und wummernden Beats aus der Klangbox. Hatte etwas von einem dieser amerikanischen Serienhelden. Nur fuhr er hier nicht über breite Boulevards, die nachts von bunter Leuchtreklame erleuchtet wurden. Hier war alles um einige Kragenweiten kleiner. Keine Häuserschluchten, die Straße einspurig und lediglich von dem trüben Schein der Straßenlaternen erhellt, die in regelmäßigen Abständen an ihm vorbei huschten. Paul liebte die nächtliche Vorstadtatmosphäre und hätte sie für keinen Preis der Welt gegen eine dieser schrillen Metropolenkulissen getauscht. Nicht einmal für ein lebenslanges Gratis-Zigarettenabonnement.

Er hatte nicht weit zu fahren. Der Club befand sich nur wenige Kilometer entfernt in einem benachbarten Vorort. Paul hoffte, auf dem Weg eine Möglichkeit zu finden, Essbares zu erstehen. Sein Magen machte sich inzwischen mit anhaltendem Knurren bemerkbar und verlangte nach nährendem Inhalt.
Wenige Minuten später passierte er eine Kreuzung und erspähte die Lichter einer Tankstelle, die weithin sichtbar, auf ihre durchgehenden Öffnungszeiten hinwies. Paul verlangsamte das Tempo und bog auf den Parkplatz ein. Er brachte den Wagen zum Stehen, schaltete den Motor aus und schälte sich aus dem Sitz.

Im hell erleuchteten Verkaufsraum herrschte nächtliche Gelassenheit. Eine sichtlich gelangweilte Angestellte drückte sich hinter der Theke herum. Mit einem kurzen Seitenblick nur hatte sie ihn registriert, bevor sie wieder auf den Bildschirm starrte, der mitten im Verkaufraum unterhalb der Decke montiert war und zappelnde Bilder eines Musiksenders ausstrahlte. Dazu kaute sie hektisch an einem Kaugummi und wippte ihren Kopf zu der Musik, die aus den Lautsprechern des Apparates drang.
Paul steuerte die verglaste Auslage am Rande der Theke an, in dem er einige Esswaren erspäht hatte. Bei näherer Betrachtung entpuppten sich diese als Backwaren, die aufgrund der Oberflächenbeschaffenheit ihre Ofenfrische weit hinter sich gelassen haben schienen. Paul war das unter den gegebenen Umständen ziemlich gleich.

„Jaaa…?“, tönte die Lady auf der anderen Seite ziemlich desinteressiert, während sie in seine Richtung schlurfte.
Ihr dunkles Haar trug sie in einem kunstvollen Konstrukt zu einem turmähnlichen Gebilde auf dem Kopf. Eine beachtliche Schicht Schminke vermochte nur ansatzweise die Problemhaut zu verbergen, von der das reichhaltig verteilte Schwarz des Lidschattens zudem wohl ablenken sollte. Paul schätzte sie nicht wesentlich älter als 20 Jahre.
„Wir sind die Nacht“, huschte es ihm durch die Gedanken.
„Bin auf Nahrungssuche“, knurrte er ihr entgegen.
„Die Polizei in kulinarischer Mission“, entgegnete sie mit einem spöttischen Gesichtsausdruck, nachdem ihr Blick das Halfter an seinem Gürtel gestreift hatte.
„Was darf ich denn der Staatsgewalt anbieten?“
„Etwas, das ohne Folgeschäden verdaubar ist“, antwortete Paul.
Sie warf einen Blick auf die karge Auslage.
„Schokocroissant. Geht zum halben Preis über den Tisch, weil von gestern. Ist aber ok. Habe mir vorhin selber eines gegönnt.“
Er fixierte sie kurz, als wollte er sich der Verträglichkeit des Produktes an ihrer Erscheinung vergewissern und nickte schließlich.
„Na dann. Ich nehme eines der Biester.“
Sie packte das Croissant ein und schlurfte zur Kasse. Paul folgte ihr und legte einige Münzen auf die Theke. Sie zählte das Wechselgeld und ließ es in seine ausgestreckte Hand fallen. Kalt berührten ihn ihre Finger dabei. Als er sie ansah war ihr Blick wieder auf den Bildschirm gerichtet und der Kiefer verarbeitete mahlend den Kaugummi.
„Schönen Tag noch, Herr Polizist“, rief sie ihm beim Hinausgehen hinterher.
„Glaube ich nicht“, brummte Paul und steuerte den Diplomat an.

Er warf die Tüte mit dem Backartikel auf den Beifahrersitz, startete den Wagen und fädelte wieder auf der Straße ein.
Einige Kreuzungen und Seitenstraßen später hatte er den Tatort erreicht.

Vor dem Gebäude des Andromedas hatte sich bereits eine Handvoll Fahrzeuge eingefunden, die ihm durchaus vertraut schienen. Er erkannte Annas Cabrio sowie Dienstfahrzeuge der Streife und den Kombi der Spurensicherung. Großzügig war ein Absperrband um den Ort des Geschehens gespannt worden, hinter dem sich einige, wenige Schaulustige eingefunden hatten und das Treiben neugierig verfolgten. Zum größten Teil Besucher des Clubs, die das Nachtprogramm außerhalb der Mauern offensichtlich für unterhaltsamer befunden hatten und nun, in kleinen Gruppen versammelt, die Ereignisse beobachteten.

Paul brachte seinen Diplomat in eine der Parklücken zum Stehen, schnappte sich die Tüte von der Tankstelle und schwang aus dem Wagen.
Anna, die ihn hatte vorfahren sehen, kam ihm sogleich entgegen. Ein Grinsen umspielte ihre vollen Lippen und entblößte makellose Zahnreihen.
„Na, hat es dich auch hierher verschlagen? Keine bessere Beschäftigung gefunden?“
„War gerade mit Angelina Jolie im heißen Sand einer abgelegenen Karibikinsel zugange, als mich der digitale Traumtöter zu terrorisieren begann.“
„Tut mir aufrichtig leid um deinen feuchten Traum. Hier erwartet dich leider weniger warmes Fleisch“, bemerkte Anna spöttisch.
Sie bedeutete ihm zu folgen und lenkte ihre Schritte zu dem Tatort. Paul stiefelte neben ihr her, während er das Croissant aus der Tüte befreite und seine Zähne in der kautschukartigen Backware vergrub. Nicht sein Leibgericht, aber immerhin würde das luftige Gebilde seine Magenwände auskleiden und den Blutzuckerspiegel deutlich über Normalnull steigen lassen.
Während beide über das Absperrband stiegen lauschte er Annas Worten:
„Carmen Terhagen. Kam gegen 1.00 Uhr aus dem Club und wollte ihre Tasche aus dem Kofferraum holen, als sie dort den Verblichenen fand. Die Lady ist Buchhalterin und ein völlig unbeschriebenes Blatt. Weiß nicht, wie ihr geschehen ist. Hat es mehr mit der Modewelt als mit der Unterwelt. Wirkt auf mich glaubwürdig.“
„Und weiß man schon, wer der leblose Kollege im Gepäckabteil sein könnte?“
Sie hatten den Wagen erreicht und blieben vor der geöffneten Klappe des Alfas stehen, während er sich die Reste seiner Mahlzeit einverleibte.

Im Inneren befand sich der leblose Körper eines Mannes. Offensichtlich nicht sehr groß gewachsen und embryonalartig zusammengerollt. Das Haar dunkel und zu einer Bürste geschnitten. Bekleidet war er mit schwarzer Jeans und ebenso farbigem Hemd. Irgendwo zwischen 40 und 50 schätzte Paul sein Alter ein. Auf den ersten Blick waren für ihn keine sichtbaren Spuren eines Kampfes oder sonstiger Gewalteinwirkung zu erkennen. Fast schien es, als hätte der Typ seine Fahrkarte in die ewigen Jagdgründe mit einem Lächeln gezogen.
„Frag mal Thomas, der weiß sicher mehr“, meinte Anna.

Thomas war Beamte der Spurensicherung. Hatte nur noch wenige Jahre bis zur Pensionierung. Ein gelassener und ziemlich ausgefuchster Kollege. Fand stets irgendwelche Nanospuren an Tatorten, die er dann zu juristisch beschusssicheren Beweisen klöppeln konnte. Paul schätzte seine Uhrwerkspräzision und die Erfahrungsmassen, die sich im Laufe von Jahrzehnten bei ihm angestaut hatten. Er war sich sicher, dass wenn er eines Tages Opfer eines heimtückischen Anschlages werden sollte, nirgendwo so fachgerecht seine sterblichen Überreste auf Spuren provozierten Ablebens untersucht werden würden, als in den Händen von Thomas.
.
Paul erspähte ihn etwas abseits des Wagens. Auf dem Boden kauernd und wie er gerade damit beschäftigt war, allerlei Utensilien in einen Koffer zu verstauen.
„Hey, Kollege, schon auf dem Rückzug?“
Thomas drehte sich herum, sah die Gruppe um den Tisch stehen, stand auf und kam zu ihnen herüber.
„Kannst du uns schon mit Details aufheitern?“, wollte Paul wissen.
Thomas nickte nachdenklich.
„Hi erstmal. Na ja, scheint erschossen worden zu sein. Zumindest fanden wir zwei Durchtrittspforten im Bereich des Oberkörpers. Vorne rein und hinten raus - oder umgekehrt. Merkwürdige Geschichte. Ziemlich sauber, geradezu chirurgisch. Keine Projektile und kein Blut zu finden. Weiteres, wenn wir ihn dann auf dem Tisch in der Gerichtsmedizin haben.“
Anna schob sich an Pauls Seite.
„Erkenntnisse zur Person?“
„Hatte keine Papiere dabei, aber ich glaube, ich kenne den Typen.“
„Echt?“, ließ sie erstaunt hören.
„Wenn mich ich nicht irre, dann gehört ihm ein Friseursalon in der Stadt - „Edwins Haarstube“. Glaube, dass ich da mal gastiert habe. Werden das mal checken.“
Paul gab ein schnaubendes Geräusch von sich.
„Na ja, das engt den Kreis möglicher Verdächtige auf unzufriedene Kunden ein. Leute, die statt Haarpracht eine gesprengte Ratte nach der Behandlung auf dem Kopf fanden. “
„Hm…wenn es der ist, den ich meine, dann gäbe es noch einen anderen Aspekt. Der Bursche war ein seltsamer Vogel. Ziemlich esoterisch. Hatte allerlei komisches Zeug in dem Laden. Kristallkugeln und so.“
„Rotes Telefon nach oben“, meinte Paul grinsend.
„Hey, etwas mehr Respekt vor den höheren Mächten bitte“, entgegnete Thomas in gespielter Entrüstung und wendete sich ab, um weiter sein Arbeitsgerät zu verstauen.

Paul drehte sich herum und erspähte Carmen in einiger Entfernung, wie sie mit gelangweilter Miene auf einem Handy tippte.
„Ist das die Leichenchaffeuse?“, wendete er sich fragend Anna zu.
Sie bejahte und mit einer Handbewegung bedeutete ihr zu folgen.
Carmen hörte die beiden herankommen und verstaute das Telefon in die Tasche ihrer Hose.
„Kommissar Paul Leuschen. Meine Kollegin kennen sie bereits. Wir werden den Fall gemeinsam bearbeiten.“
Sie richtete ihre Augen auf ihn und nahm die angebotene Hand mit einem schlaffen Druck entgegen.
„Carmen Terhagen. Ein Theater ist das hier“, warf sie ihm sichtlich gereizt entgegen, „was passiert denn nun mit dem Holzkittelträger und vor allem, wann kann ich meine Tasche wiederhaben?“
„Die Jungs von der Gerichtsmedizin werden sich der Sache annehmen. Treffen gleich ein und kümmern sich um den Abtransport. Ich danke schon mal für ihre Geduld.“
Er kramte in der Hosentasche und beförderte eine zerknitterte Visitenkarte an das Neonlicht.
„Rufen Sie uns an, wenn ihnen noch etwas einfallen sollte, das von Bedeutung sein könnte. Unabhängig davon werden wir sie in den nächsten Tagen sicher noch mal kontaktieren.“
Carmen nahm die Karte entgegen und warf einen gelangweilten Blick darauf.
„Ok, von mir aus…“, entgegnete sie mit einem entnervten Unterton.
Paul nickte ihr freundlich zu und zog Anna beiseite.
„Lass uns gehen und noch eine Kappe Schlaf nehmen. Wir treffen uns dann später auf dem Revier und entwerfen coole Pläne für das weitere Vorgehen“, sagte Paul.
„Klingt brauchbar“, antwortete sie und hielt sich gähnend eine Hand vor dem Mund, „dann mal beste Grüße an Angelina und sie soll mir ihren Mann schicken.“
Anna zwinkerte ihm verschwörerisch zu, bevor sie sich abwendete und ihren Wagen ansteuerte.
„Bin momentan leider unabkömmlich“, warf er ihr noch hinterher.
Sie lachte laut als sie in ihr Cabrio stieg.

Paul ließ sich auf den Fahrersitz des Diplomats gleiten, startete die Maschine, rangierte aus der Parklücke und rollte auf die Straße. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck starrte er durch die Scheibe. Die Lichter des Wagens durchschnitten die Nacht und Häuser huschten vorbei. Ihm fröstelte bei dem Gedanken an das Gesehene. Wohl aber nicht nur deswegen. Ein kalter Hauch schien durch das Wageninnere zu strömen und Paul spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Instinktiv tastete er zu der Waffe an seinem Gürtel.
„Das brauchen sie nicht“, tönte es mit einem Male in seinem Rücken.
Er zuckte zusammen. Der Wagen schlingerte kurz.
„Fahren sie bitte weiter.“
Paul sah in den Rückspiegel und blickte in das Gesicht eines Aliens. Zwar war dieses seine erste Begegnung mit einem, aber er benötigte keine Google-Recherche um sich seiner Sache sicher zu sein. Das gelbe Augenpaar, das ihn freundlich durch den Spiegel ansah, sprach für sich. Ein auffällig großes Augenpaar, welches große Teile des schmalen Gesichtes blassblauer Färbung einnahm. Dazu ein kleiner, dünnlippiger Mund, der sich zu einem angedeuteten Lächeln verzogen zu haben schien.
Er hatte nichts gegen Aliens. Grundsätzlich nicht. Wenn es ihm auch unter diesen Umständen ungelegen schien. Mitten in der Nacht, auf der Rückbank seines Wagens und unter dem Eindruck des Besuches eines eher ungewöhnlichen Tatortes.
„Wer zur Hölle sind sie und was machen sie in meinem Wagen?“
Die fremde Erscheinung drehte den Kopf und sah durch die Scheibe. Die vorbeiziehenden Straßenlaternen warfen glitzernden Schimmer auf das glatte, schwarze Haar des Wesens, das straff über den Kopf zurückgelegt war und kleine Ohren umrahmte, die nahezu vollständig in den Kopf eingelassen schienen.
„Ka-Hal, wobei mein Name in ihrer Sprache nur unzureichend dargestellt ist.“
Das Wesen hatte wieder den Kopf gewendet und schaute ihn durch den Spiegel an. Lidähnliche Häute fuhren in schneller Abfolge über die Augen und es wirkte, als würde es ihm zublinzeln.
„Ok, Ka-Hal, was zum Henker machen sie in meinem Wagen? Was wollen sie von mir?“
„Nun, wir sind so etwas wie Kollegen. In meiner Heimat gehe ich einer vergleichbaren Tätigkeit zu ihrer nach.“
„Unterbezahlter Jäger lichtscheuer Existenzen? Herzlichen Glückwunsch und weiter?“
„Dieser Fall ist ziemlich brisant.“
„Welcher Fall?“, entgegnet Paul.
„Die Leiche, die sie soeben gefunden haben.“
„Was wissen sie darüber und was haben sie damit zu tun?“
„Edwin war eine wichtige Person für uns. So etwas wie ein Mittelsmann. Hat Kontakte koordiniert.“
Paul entfuhr ein heiseres Lachen. Er trat auf die Bremse, lenkte den Wagen an den Straßenrand, schaltete ihn aus und wendete sich dem Besucher zu.
„Hören sie, wer auch immer sie sein mögen. Ich bin müde und genervt. Sie haben sich auf den Rücksitz geschlichen und erzählen mir hier eine wirre Geschichte von anderen Welten. Dafür habe ich jetzt echt keine Geduldskapazitäten. Steigen sie einfach nur aus und wir gehen unserer Wege. Sie, wo immer sie hin wollen und ich ins Bett.“
Das Wesen schaute ihn für einen Moment aus großen, gelben Augen an und betätigte dann den Türöffner.
„Gut, ich werde gehen. Ruhen sie sich aus und wir reden später.“
Im Halbdunkel sah Paul eine Handbewegung und wie ein Gegenstand auf den Beifahrersitz fiel. Er warf einen Blick darauf und erkannte ein flaches, rechteckiges Ding, das etwa Spielkartengröße haben mochte. Es schimmerte metallen im Schein der Laternen. Bevor er sich näher mit dem Objekt beschäftigen konnte, hörte er das dumpfe Geräusch der zuschlagenden Autotüre.
Paul hob den Kopf und sah kopfschüttelnd dem Fremden nach, wie dieser gerade ausgestiegen war und sich rasch vom Wagen entfernte. Er startete den Motor und lenkte den Diplomat wieder auf die Straße. Als er erneut in den Rückspiegel sah, war der Fremde verschwunden. Beinahe so, als hätte es ihn nie gegeben.
Paul schüttelte den Kopf und grinste.
„Verrückt“, schoss es ihm durch den Sinn, „eine irre Welt, in der wir leben“.
Das dachte er auch noch später, als sein Kopf auf das Kissen im heimischen Bett sank. Unmittelbar neben dem Nachttisch, auf dem sein Handy lag und ein metallisches Objekt, das seltsam bläulich im Licht der durch die Jalousien eintretenden Strahlen der Straßenbeleuchtung schimmerte.
Paul verfiel in einen unruhigen Schlaf…


Ein mieser Tag. Ein bemerkenswert mieser Tag. Zuerst hatte Carmen verschlafen und war viel zu spät im Büro erschienen. Klar, dass der Boss die Gelegenheit nutzte, um ihr wieder mal eine gepflegte Standpauke zu verabreichen. Die übliche Leier. Thematisch irgendwo zwischen Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit oszillierend. Den exakten Inhalt hätte Carmen gar nicht mehr wiedergeben können. Sie hatte sich längst angewöhnt, seiner verbalen Materialschlacht mit ambossartiger Gelassenheit und einem heruntergefahrenen Aufnahmesystem zu begegnen.
Dann hatte Mutter angerufen und von ihrer Arthrose erzählt. Gefühlte Spielfilmlänge. Mindestens „Ben Hur“ und mit diesem vorwurfsvoll jammernden Unterton. Als würde ihr Dasein nur dem Zweck dienen, alles Leid dieser Welt in sich zu bündeln. Während die Worte durch die Freisprecheinrichtung tropften und Carmen hin und wieder ein „Oh“ oder ein „Ach“ einwarf, hatte sie die Gelegenheit genutzt und ihre Fingernägel auf Blickfangniveau lackiert. Feuerrot. In gar nicht unbeabsichtigter Signalwirkung für das anstehende Date. Unrentable Kleinkunst, denn hätte Carmen gewusst, dass sie am Abend eine halbe Ewigkeit in diesem Club sitzen und erfolglos auf Arnd warten würde, hätte sie sich die künstlerischen Aktivitäten an ihren Fingerenden erspart. Eigentlich waren sie verabredet gewesen, aber Hoheit hatte es vorgezogen, nicht zu erscheinen. Einfach so. Ohne Absage und ihre Anrufe auf seinem Handy blieben unbeantwortet.

Irgendwann, zwei Cocktails später, hatte sie ziemlich missmutig den Laden verlassen und war zu ihrem Auto gegangen. Nicht, dass ihr der Tag schon genug an Frustsouvenirs eingebracht hatte, zu allem Überfluss gab es dann auch noch ein Problem mit dem Wagen. Heute blieb ihr nichts erspart. Nicht mal dieses Telefonat mit dem Polizeinotruf:
„Hallo?“
„Ja, was kann ich für sie tun?“
„Meine Handtasche liegt im Kofferraum und ich komme nicht heran!“
Der Typ am anderen Ende der Leitung wirkte etwas gereizt:
„Gute Frau, sie haben die Polizei gerufen. Was sollen wir da, ihrer Meinung nach, unternehmen? Ist sie denn gestohlen worden?“
„Nein, das ist es nicht. Komme da einfach nicht heran…“
„Wollen sie mich auf den Arm nehmen?“
Carmen schnaubte entnervt.
„Hören sie, mein Tag war echt beschissen. Nach Scherzen ist mir mal gar nicht. Alles, was ich will, ist diese dämliche Tasche. Geht aber nicht, weil da so eine blöde Leiche drauf liegt.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte für einen Moment besinnliche Stille, bevor die Stimme erneut ansetzte:
„Ist das ihr Ernst oder wollen sie mich veralbern?“
„Man man, sie sind doch zuständig für biologische Totalausfälle oder nicht? Kein Ahnung, wie das in meinen Wagen gelandet ist. Jedenfalls komme ich gerade aus dem Club, wollte meine Handtasche aus dem Kofferraum holen und da liegt nun dieser Erdmöbelkunde. Ziemlich bleich und vom Lebensspielfeld genommen. Mal abgesehen davon - wissen sie, was so eine Prada-Tasche kostet? Ein Vermögen! Was, wenn die nun hin ist? Wie ich die Versicherung kenne, werden die mir nicht einen Cent erstatten!“
Nach einem weiteren Moment des Schweigens, schien der Typ am anderen Ende die Lage zu erfassen:
„Ok, hoffentlich ist das ist keine Scherz. Fassen sie bitte nichts an. Ich schicke das Team von der Spurensicherung heraus. Wo ist ihr Standort?“
„Der Parkplatz vor dem Club Andromeda.“
„Gut, kennen wir. Bleiben sie an ihrem Wagen. Meine Kollegen sind in einigen Minuten vor Ort.“
Dann legte er auf.
Entnervt schlug Carmen den Kofferraumdeckel des silbernen Alfas zu und lehnte sich wartend gegen den Wagen.

Als würde eine Hummel auf dem Rasierapparat surfen. So etwa klang es in Pauls Ohren, als das Handy auf dem Nachttisch um Aufmerksamkeit summte. Der Vibrationsalarm versetzte das ganze Möbel in Schwingung. Kaum zu überhören, selbst mit einer Schlafdosis weit unter der empfohlenen Mindestmenge.
In einem nur halbherzigen Kampf gegen die Mächte der Müdigkeit schälte sich Paul halbseitig aus der wärmenden Daunendecke hervor und fuhr tastend die Hand aus. Nach einigen Fehlversuchen fanden seine Finger den digitalen Störenfrieden. Bedächtig führte er die Sprachmaschine ohrenwärts und betätigte dabei die Plappertaste.
„Maan…jetzt bin ich aber gespannt…“
„Paul?“, tönte es aus der Leitung, „bist Du wach?“
„Selbstverständlich…welcher Irre käme auf die verwegene Idee, nachts zu schlafen?“
„Anna hier. Sorry, aber es gibt Arbeit - Leiche im Kofferraum eines Alfas. Parkplatz vor dem Andromeda.“

In einem Sinkflug durch den Nebel der Erkenntnis begannen sich Pauls Gedanken zu sortieren. Anna, seine Partnerin im Morddezernat. Eine hübsche Erscheinung mit langen, roten Haaren, grünen Katzenaugen und ziemlich weiblicher Silhouette. Immer voll übersprühender Energie, starrköpfig und phasenweise eine wandelnde Materialprüfung für Nervenstränge.
„Soll bei italienischen Pastaschüsseln des Öfteren vorkommen…“
„Na ja, die Besitzerin des Wagens ist ziemlich uneuphorisch. Fährt üblicherweise keine Leichen durch die Landschaft. Klingt für mich recht glaubwürdig“
Paul dachte kurz nach und kam zu der Erkenntnis, dass Kofferräume nicht das gängige Biotop für Leichen sind. Egal welcher Wagentyp.
„Ok, bin auf dem Weg.“
Er beendete das Gespräch und warf die Sprachmaschine wieder auf dem Nachttisch ab.

Fluchend dirigierte Paul seine Beine aus dem Bett und bezog sitzende Position auf der Bettkante. Träge massierte er seine Schläfen, während der Denkapparat das Programm zur örtlichen und zeitlichen Orientierung startete.
Durch die heruntergelassenen Jalousien im Schlafzimmer drang lediglich das Licht der Straßenlaterne und der Blick auf den Radiowecker ließ ihn stöhnend den Kopf schütteln. 1:23 Uhr – eine Zeit, in der sich lediglich Gesetzeshüter auf der Straße herumtrieben und solche, die denen aus dem Wege zu gehen versuchten.

Er stemmte sich in die Höhe und verharrte einen Moment in dem Stadium horizontalen Standes, bevor er tastend aus dem Zimmer wankte, den Flur passierte und den Lichtschalter vor dem Badezimmer betätigte
Die plötzliche Helligkeit ließ ihn blinzeln und nur bruchstückhaft ein mit Schlaf unterversorgtes Gesicht im Spiegel erkennen. Die kurzen, dunkelblonden und vereinzelt ergrauenden Haare standen wirr auf dem Kopf und dunkle Ringansätze zierten die untere Augenpartie. Für die Endrunde des „Sexiest Man Alive“ hätte es vermutlich nicht gereicht. Musste es auch nicht. Paul war Ganovenschreck in Staatsdiensten. Mordkommission. Schon seit 21 Jahren und das durchaus erfolgreich. Aufklärungsquote nahe 100%. Sicherlich nicht nur ein Verdienst des skalpellscharfen Verstandes, dem man ihm nachsagte, sondern auch der Zähigkeit. Anders gesagt: Hatte er sich einmal in einem Fall verbissen, vermochte er kaum abzulassen, bis dieser geklärt war. „Zecke Paul“, flüsterten sie dann hinter seinem Rücken und glaubten, er würde es nicht hören. Paul empfand dies durchaus als Kompliment und registrierte es mit einem heimlichen Grinsen.

Er bezog Platz vor dem Waschbecken, drehte das warme Wasser auf, ließ eine Handvoll Nass mit seinem Gesicht Kontakt aufnehmen und fuhr sich dann durch die Haare. Mit einer Bürste brachte er diese in Form und befand sich, nach einem prüfenden Blick in den Spiegel, für halbwegs gesellschaftstauglich. Die belebende Wirkung der Maßnahmen schien nun auch das Blau seiner Augen einen Hauch wacher erscheinen.
Paul ging zurück in das Schlafzimmer, fischte einige Kleidungsstücke aus dem Schrank und streifte diese über. Die zu erwartenden Temperaturen in dem Sommermonat ließen ihn ein T-Shirt zu der üblichen Jeans hinreichend erscheinen. Mit seinen 42 Jahren machte er in dieser Ausstattung immer noch eine gute Figur. Die regelmäßigen Besuche im Trainingsraum des Polizeireviers hatten zu sichtbaren Resultaten geführt. Auf gut 180 cm Länge tummelten sich nur wenige, erkennbare Kohlehydratspeicher und der muskulöse Oberkörper ließ erahnen, dass der Besitzer einen festen Händedruck zu erwidern wusste.

Paul prüfte den Sitz seiner Dienstwaffe am Gürtel, angelte die Schlüssel vom Haken, löschte alle Lichter, öffnete die Tür, trat hinaus und zog sie hinter sich zu.
Die Luft war klar und frisch. Dennoch war es warm. Ein wenig, als hätte jemand die Tür des Tagesbackofens geöffnet gelassen und die Restwärme würde sich nun mit der Nachtluft mischen. Bei dem Gedanken musste er grinsen. Kurz hielt er inne und sog die Luft in sich auf. Die Stille ließ ihn dabei nichts als das Geräusch seiner Atemzüge hören. Eine irritierende Stille. Kein Straßenlärm, keine vorbeihuschenden Menschen, nicht einmal der Klang musizierender Federtiere war zu vernehmen. Als hätte jemand die Mute-Taste gedrückt. In diesem Moment wurde Paul von einem kalten Lufthauch im Nacken gestreift und für einen Augenblick schien die Straßenlaterne vor dem Haus zu flackern. Er schüttelte sich und schob die irritierende Wahrnehmung beiseite.
„Kein Wunder, wenn man unterkoffeiniert und im Schlafdefizit aus dem Haus stürzt“, schoss es ihm durch den Kopf.

Paul lenkte seine Schritte zum Auto. Der alte Diplomat war in unmittelbarer Nähe geparkt. Sicher kein zeitgemäßer Untersatz mehr, aber bisher hatte er sich von dem Wagen nicht trennen können. Das Ding war unhandlich, schluckte Sprit wie ein Passagierflugzeug und verschlang ein Vermögen für die Wartung. Andererseits liebte er den Sound des Achtenders unter der Motorhaube und jenes sanfte Schaukeln der Karosserie, wenn man über die Landstraßen glitt. Außerdem hatte er Charakter. Etwas, das ihm bei den Einheitsgefährten neuerer Produktion zu fehlen schien.

Paul entriegelte die Wagentür und ließ sich auf den Fahrersitz gleiten. Mit basslastigem Blubbern startete die Maschine. Er lenkte aus der Parklücke, fischte eine Zigarette aus der Packung, die er sicherheitshalber immer auf der Ablage bereit hielt und zündete diese an. Gierig sog er den Rauch ein und genoss die belebende Wirkung. Ein Laster, das er sich bisher noch nicht abgewöhnt hatte. Er hasste Abhängigkeiten und wusste um die biologiefeindlichen Auswirkungen des Tabaks, hatte aber trotzdem noch nicht genug Willensstärke aufbringen können, dem blauen Dunst zu entsagen. „Irgendwann“, sagte er sich stets und wusste, dass das handelsübliche Motto aller Süchtigen war.

Beherzt drehte er an dem Lautstärkeregler des Soundsystems. Wummernde Beats mischten sich nun mit dem kraftvollen Klang der großvolumigen Maschine. „Wir sind die Nacht“, ließ eine Frauenstimmer hören, gefolgt von pulsierendem Klängen. Selten schien ihm der Track von Covenant passender als in diesem Moment und während er seinen Oberkörper zu dem Rhythmus mitschwingen ließ, fühlte er die Lebensgeister an die Türen seiner Denkstube rütteln. Tatsächlich begann allmählich so etwas wie ein Wohlgefühl in der Bauchregion Platz einzunehmen.
„Irgendwie ziemlich cool“, fuhr es ihm durch die Gedanken.
Ein Kerl mit seinem Wagen über leere Straßen gleitend, Glimmstengel im Lippeneck und wummernden Beats aus der Klangbox. Hatte etwas von einem dieser amerikanischen Serienhelden. Nur fuhr er hier nicht über breite Boulevards, die nachts von bunter Leuchtreklame erleuchtet wurden. Hier war alles um einige Kragenweiten kleiner. Keine Häuserschluchten, die Straße einspurig und lediglich von dem trüben Schein der Straßenlaternen erhellt, die in regelmäßigen Abständen an ihm vorbei huschten. Paul liebte die nächtliche Vorstadtatmosphäre und hätte sie für keinen Preis der Welt gegen eine dieser schrillen Metropolenkulissen getauscht. Nicht einmal für ein lebenslanges Gratis-Zigarettenabonnement.

Er hatte nicht weit zu fahren. Der Club befand sich nur wenige Kilometer entfernt in einem benachbarten Vorort. Paul hoffte, auf dem Weg eine Möglichkeit zu finden, Essbares zu erstehen. Sein Magen machte sich inzwischen mit anhaltendem Knurren bemerkbar und verlangte nach nährendem Inhalt.
Wenige Minuten später passierte er eine Kreuzung und erspähte die Lichter einer Tankstelle, die weithin sichtbar, auf ihre durchgehenden Öffnungszeiten hinwies. Paul verlangsamte das Tempo und bog auf den Parkplatz ein. Er brachte den Wagen zum Stehen, schaltete den Motor aus und schälte sich aus dem Sitz.

Im hell erleuchteten Verkaufsraum herrschte nächtliche Gelassenheit. Eine sichtlich gelangweilte Angestellte drückte sich hinter der Theke herum. Mit einem kurzen Seitenblick nur hatte sie ihn registriert, bevor sie wieder auf den Bildschirm starrte, der mitten im Verkaufraum unterhalb der Decke montiert war und zappelnde Bilder eines Musiksenders ausstrahlte. Dazu kaute sie hektisch an einem Kaugummi und wippte ihren Kopf zu der Musik, die aus den Lautsprechern des Apparates drang.
Paul steuerte die verglaste Auslage am Rande der Theke an, in dem er einige Esswaren erspäht hatte. Bei näherer Betrachtung entpuppten sich diese als Backwaren, die aufgrund der Oberflächenbeschaffenheit ihre Ofenfrische weit hinter sich gelassen haben schienen. Paul war das unter den gegebenen Umständen ziemlich gleich.

„Jaaa…?“, tönte die Lady auf der anderen Seite ziemlich desinteressiert, während sie in seine Richtung schlurfte.
Ihr dunkles Haar trug sie in einem kunstvollen Konstrukt zu einem turmähnlichen Gebilde auf dem Kopf. Eine beachtliche Schicht Schminke vermochte nur ansatzweise die Problemhaut zu verbergen, von der das reichhaltig verteilte Schwarz des Lidschattens zudem wohl ablenken sollte. Paul schätzte sie nicht wesentlich älter als 20 Jahre.
„Wir sind die Nacht“, huschte es ihm durch die Gedanken.
„Bin auf Nahrungssuche“, knurrte er ihr entgegen.
„Die Polizei in kulinarischer Mission“, entgegnete sie mit einem spöttischen Gesichtsausdruck, nachdem ihr Blick das Halfter an seinem Gürtel gestreift hatte.
„Was darf ich denn der Staatsgewalt anbieten?“
„Etwas, das ohne Folgeschäden verdaubar ist“, antwortete Paul.
Sie warf einen Blick auf die karge Auslage.
„Schokocroissant. Geht zum halben Preis über den Tisch, weil von gestern. Ist aber ok. Habe mir vorhin selber eines gegönnt.“
Er fixierte sie kurz, als wollte er sich der Verträglichkeit des Produktes an ihrer Erscheinung vergewissern und nickte schließlich.
„Na dann. Ich nehme eines der Biester.“
Sie packte das Croissant ein und schlurfte zur Kasse. Paul folgte ihr und legte einige Münzen auf die Theke. Sie zählte das Wechselgeld und ließ es in seine ausgestreckte Hand fallen. Kalt berührten ihn ihre Finger dabei. Als er sie ansah war ihr Blick wieder auf den Bildschirm gerichtet und der Kiefer verarbeitete mahlend den Kaugummi.
„Schönen Tag noch, Herr Polizist“, rief sie ihm beim Hinausgehen hinterher.
„Glaube ich nicht“, brummte Paul und steuerte den Diplomat an.

Er warf die Tüte mit dem Backartikel auf den Beifahrersitz, startete den Wagen und fädelte wieder auf der Straße ein.
Einige Kreuzungen und Seitenstraßen später hatte er den Tatort erreicht.

Vor dem Gebäude des Andromedas hatte sich bereits eine Handvoll Fahrzeuge eingefunden, die ihm durchaus vertraut schienen. Er erkannte Annas Cabrio sowie Dienstfahrzeuge der Streife und den Kombi der Spurensicherung. Großzügig war ein Absperrband um den Ort des Geschehens gespannt worden, hinter dem sich einige, wenige Schaulustige eingefunden hatten und das Treiben neugierig verfolgten. Zum größten Teil Besucher des Clubs, die das Nachtprogramm außerhalb der Mauern offensichtlich für unterhaltsamer befunden hatten und nun, in kleinen Gruppen versammelt, die Ereignisse beobachteten.

Paul brachte seinen Diplomat in eine der Parklücken zum Stehen, schnappte sich die Tüte von der Tankstelle und schwang aus dem Wagen.
Anna, die ihn hatte vorfahren sehen, kam ihm sogleich entgegen. Ein Grinsen umspielte ihre vollen Lippen und entblößte makellose Zahnreihen.
„Na, hat es dich auch hierher verschlagen? Keine bessere Beschäftigung gefunden?“
„War gerade mit Angelina Jolie im heißen Sand einer abgelegenen Karibikinsel zugange, als mich der digitale Traumtöter zu terrorisieren begann.“
„Tut mir aufrichtig leid um deinen feuchten Traum. Hier erwartet dich leider weniger warmes Fleisch“, bemerkte Anna spöttisch.
Sie bedeutete ihm zu folgen und lenkte ihre Schritte zu dem Tatort. Paul stiefelte neben ihr her, während er das Croissant aus der Tüte befreite und seine Zähne in der kautschukartigen Backware vergrub. Nicht sein Leibgericht, aber immerhin würde das luftige Gebilde seine Magenwände auskleiden und den Blutzuckerspiegel deutlich über Normalnull steigen lassen.
Während beide über das Absperrband stiegen lauschte er Annas Worten:
„Carmen Terhagen. Kam gegen 1.00 Uhr aus dem Club und wollte ihre Tasche aus dem Kofferraum holen, als sie dort den Verblichenen fand. Die Lady ist Buchhalterin und ein völlig unbeschriebenes Blatt. Weiß nicht, wie ihr geschehen ist. Hat es mehr mit der Modewelt als mit der Unterwelt. Wirkt auf mich glaubwürdig.“
„Und weiß man schon, wer der leblose Kollege im Gepäckabteil sein könnte?“
Sie hatten den Wagen erreicht und blieben vor der geöffneten Klappe des Alfas stehen, während er sich die Reste seiner Mahlzeit einverleibte.

Im Inneren befand sich der leblose Körper eines Mannes. Offensichtlich nicht sehr groß gewachsen und embryonalartig zusammengerollt. Das Haar dunkel und zu einer Bürste geschnitten. Bekleidet war er mit schwarzer Jeans und ebenso farbigem Hemd. Irgendwo zwischen 40 und 50 schätzte Paul sein Alter ein. Auf den ersten Blick waren für ihn keine sichtbaren Spuren eines Kampfes oder sonstiger Gewalteinwirkung zu erkennen. Fast schien es, als hätte der Typ seine Fahrkarte in die ewigen Jagdgründe mit einem Lächeln gezogen.
„Frag mal Thomas, der weiß sicher mehr“, meinte Anna.

Thomas war Beamte der Spurensicherung. Hatte nur noch wenige Jahre bis zur Pensionierung. Ein gelassener und ziemlich ausgefuchster Kollege. Fand stets irgendwelche Nanospuren an Tatorten, die er dann zu juristisch beschusssicheren Beweisen klöppeln konnte. Paul schätzte seine Uhrwerkspräzision und die Erfahrungsmassen, die sich im Laufe von Jahrzehnten bei ihm angestaut hatten. Er war sich sicher, dass wenn er eines Tages Opfer eines heimtückischen Anschlages werden sollte, nirgendwo so fachgerecht seine sterblichen Überreste auf Spuren provozierten Ablebens untersucht werden würden, als in den Händen von Thomas.
.
Paul erspähte ihn etwas abseits des Wagens. Auf dem Boden kauernd und wie er gerade damit beschäftigt war, allerlei Utensilien in einen Koffer zu verstauen.
„Hey, Kollege, schon auf dem Rückzug?“
Thomas drehte sich herum, sah die Gruppe um den Tisch stehen, stand auf und kam zu ihnen herüber.
„Kannst du uns schon mit Details aufheitern?“, wollte Paul wissen.
Thomas nickte nachdenklich.
„Hi erstmal. Na ja, scheint erschossen worden zu sein. Zumindest fanden wir zwei Durchtrittspforten im Bereich des Oberkörpers. Vorne rein und hinten raus - oder umgekehrt. Merkwürdige Geschichte. Ziemlich sauber, geradezu chirurgisch. Keine Projektile und kein Blut zu finden. Weiteres, wenn wir ihn dann auf dem Tisch in der Gerichtsmedizin haben.“
Anna schob sich an Pauls Seite.
„Erkenntnisse zur Person?“
„Hatte keine Papiere dabei, aber ich glaube, ich kenne den Typen.“
„Echt?“, ließ sie erstaunt hören.
„Wenn mich ich nicht irre, dann gehört ihm ein Friseursalon in der Stadt - „Edwins Haarstube“. Glaube, dass ich da mal gastiert habe. Werden das mal checken.“
Paul gab ein schnaubendes Geräusch von sich.
„Na ja, das engt den Kreis möglicher Verdächtige auf unzufriedene Kunden ein. Leute, die statt Haarpracht eine gesprengte Ratte nach der Behandlung auf dem Kopf fanden. “
„Hm…wenn es der ist, den ich meine, dann gäbe es noch einen anderen Aspekt. Der Bursche war ein seltsamer Vogel. Ziemlich esoterisch. Hatte allerlei komisches Zeug in dem Laden. Kristallkugeln und so.“
„Rotes Telefon nach oben“, meinte Paul grinsend.
„Hey, etwas mehr Respekt vor den höheren Mächten bitte“, entgegnete Thomas in gespielter Entrüstung und wendete sich ab, um weiter sein Arbeitsgerät zu verstauen.

Paul drehte sich herum und erspähte Carmen in einiger Entfernung, wie sie mit gelangweilter Miene auf einem Handy tippte.
„Ist das die Leichenchaffeuse?“, wendete er sich fragend Anna zu.
Sie bejahte und mit einer Handbewegung bedeutete ihr zu folgen.
Carmen hörte die beiden herankommen und verstaute das Telefon in die Tasche ihrer Hose.
„Kommissar Paul Leuschen. Meine Kollegin kennen sie bereits. Wir werden den Fall gemeinsam bearbeiten.“
Sie richtete ihre Augen auf ihn und nahm die angebotene Hand mit einem schlaffen Druck entgegen.
„Carmen Terhagen. Ein Theater ist das hier“, warf sie ihm sichtlich gereizt entgegen, „was passiert denn nun mit dem Holzkittelträger und vor allem, wann kann ich meine Tasche wiederhaben?“
„Die Jungs von der Gerichtsmedizin werden sich der Sache annehmen. Treffen gleich ein und kümmern sich um den Abtransport. Ich danke schon mal für ihre Geduld.“
Er kramte in der Hosentasche und beförderte eine zerknitterte Visitenkarte an das Neonlicht.
„Rufen Sie uns an, wenn ihnen noch etwas einfallen sollte, das von Bedeutung sein könnte. Unabhängig davon werden wir sie in den nächsten Tagen sicher noch mal kontaktieren.“
Carmen nahm die Karte entgegen und warf einen gelangweilten Blick darauf.
„Ok, von mir aus…“, entgegnete sie mit einem entnervten Unterton.
Paul nickte ihr freundlich zu und zog Anna beiseite.
„Lass uns gehen und noch eine Kappe Schlaf nehmen. Wir treffen uns dann später auf dem Revier und entwerfen coole Pläne für das weitere Vorgehen“, sagte Paul.
„Klingt brauchbar“, antwortete sie und hielt sich gähnend eine Hand vor dem Mund, „dann mal beste Grüße an Angelina und sie soll mir ihren Mann schicken.“
Anna zwinkerte ihm verschwörerisch zu, bevor sie sich abwendete und ihren Wagen ansteuerte.
„Bin momentan leider unabkömmlich“, warf er ihr noch hinterher.
Sie lachte laut als sie in ihr Cabrio stieg.

Paul ließ sich auf den Fahrersitz des Diplomats gleiten, startete die Maschine, rangierte aus der Parklücke und rollte auf die Straße. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck starrte er durch die Scheibe. Die Lichter des Wagens durchschnitten die Nacht und Häuser huschten vorbei. Ihm fröstelte bei dem Gedanken an das Gesehene. Wohl aber nicht nur deswegen. Ein kalter Hauch schien durch das Wageninnere zu strömen und Paul spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Instinktiv tastete er zu der Waffe an seinem Gürtel.
„Das brauchen sie nicht“, tönte es mit einem Male in seinem Rücken.
Er zuckte zusammen. Der Wagen schlingerte kurz.
„Fahren sie bitte weiter.“
Paul sah in den Rückspiegel und blickte in das Gesicht eines Aliens. Zwar war dieses seine erste Begegnung mit einem, aber er benötigte keine Google-Recherche um sich seiner Sache sicher zu sein. Das gelbe Augenpaar, das ihn freundlich durch den Spiegel ansah, sprach für sich. Ein auffällig großes Augenpaar, welches große Teile des schmalen Gesichtes blassblauer Färbung einnahm. Dazu ein kleiner, dünnlippiger Mund, der sich zu einem angedeuteten Lächeln verzogen zu haben schien.
Er hatte nichts gegen Aliens. Grundsätzlich nicht. Wenn es ihm auch unter diesen Umständen ungelegen schien. Mitten in der Nacht, auf der Rückbank seines Wagens und unter dem Eindruck des Besuches eines eher ungewöhnlichen Tatortes.
„Wer zur Hölle sind sie und was machen sie in meinem Wagen?“
Die fremde Erscheinung drehte den Kopf und sah durch die Scheibe. Die vorbeiziehenden Straßenlaternen warfen glitzernden Schimmer auf das glatte, schwarze Haar des Wesens, das straff über den Kopf zurückgelegt war und kleine Ohren umrahmte, die nahezu vollständig in den Kopf eingelassen schienen.
„Ka-Hal, wobei mein Name in ihrer Sprache nur unzureichend dargestellt ist.“
Das Wesen hatte wieder den Kopf gewendet und schaute ihn durch den Spiegel an. Lidähnliche Häute fuhren in schneller Abfolge über die Augen und es wirkte, als würde es ihm zublinzeln.
„Ok, Ka-Hal, was zum Henker machen sie in meinem Wagen? Was wollen sie von mir?“
„Nun, wir sind so etwas wie Kollegen. In meiner Heimat gehe ich einer vergleichbaren Tätigkeit zu ihrer nach.“
„Unterbezahlter Jäger lichtscheuer Existenzen? Herzlichen Glückwunsch und weiter?“
„Dieser Fall ist ziemlich brisant.“
„Welcher Fall?“, entgegnet Paul.
„Die Leiche, die sie soeben gefunden haben.“
„Was wissen sie darüber und was haben sie damit zu tun?“
„Edwin war eine wichtige Person für uns. So etwas wie ein Mittelsmann. Hat Kontakte koordiniert.“
Paul entfuhr ein heiseres Lachen. Er trat auf die Bremse, lenkte den Wagen an den Straßenrand, schaltete ihn aus und wendete sich dem Besucher zu.
„Hören sie, wer auch immer sie sein mögen. Ich bin müde und genervt. Sie haben sich auf den Rücksitz geschlichen und erzählen mir hier eine wirre Geschichte von anderen Welten. Dafür habe ich jetzt echt keine Geduldskapazitäten. Steigen sie einfach nur aus und wir gehen unserer Wege. Sie, wo immer sie hin wollen und ich ins Bett.“
Das Wesen schaute ihn für einen Moment aus großen, gelben Augen an und betätigte dann den Türöffner.
„Gut, ich werde gehen. Ruhen sie sich aus und wir reden später.“
Im Halbdunkel sah Paul eine Handbewegung und wie ein Gegenstand auf den Beifahrersitz fiel. Er warf einen Blick darauf und erkannte ein flaches, rechteckiges Ding, das etwa Spielkartengröße haben mochte. Es schimmerte metallen im Schein der Laternen. Bevor er sich näher mit dem Objekt beschäftigen konnte, hörte er das dumpfe Geräusch der zuschlagenden Autotüre.
Paul hob den Kopf und sah kopfschüttelnd dem Fremden nach, wie dieser gerade ausgestiegen war und sich rasch vom Wagen entfernte. Er startete den Motor und lenkte den Diplomat wieder auf die Straße. Als er erneut in den Rückspiegel sah, war der Fremde verschwunden. Beinahe so, als hätte es ihn nie gegeben.
Paul schüttelte den Kopf und grinste.
„Verrückt“, schoss es ihm durch den Sinn, „eine irre Welt, in der wir leben“.
Das dachte er auch noch später, als sein Kopf auf das Kissen im heimischen Bett sank. Unmittelbar neben dem Nachttisch, auf dem sein Handy lag und ein metallisches Objekt, das seltsam bläulich im Licht der durch die Jalousien eintretenden Strahlen der Straßenbeleuchtung schimmerte.
Paul verfiel in einen unruhigen Schlaf…

© by P.H.

Samstag, 15. Oktober 2011

Filterlose, Bohnensaft und Weltraumschrott

Trevor wusste, dass er unter einem Helfersyndrom litt. Nach seinem Empfinden war das allerdings ziemlich untragisch, denn zu einer Existenzentfremdung hatte es ihn bisher noch nicht getrieben - im Gegenteil. Gerade diese Charaktereigenschaft war es, die ihn in seinem privaten Biotop zu einem durchaus geschätzten Mitwesen kürte. Klar, nichts, was er jemals als Zielvorgabe in seiner Lebensagenda erfasst hatte, aber mit wohltuender Bauchwärme entgegennahm. Genau diese war es aber, die sich in dem Augenblick gar nicht einstellen wollte, als er am Rande der Straße stand und jene ältere Dame auf den Schultern trug, die ihn wenige Minuten zuvor angesprochen hatte:
„Ach, junger Mann, wären Sie so freundlich und würden mir über die Fahrbahn helfen?“
Selbstverständlich konnte Trevor diese Bitte nicht abschlagen und hatte nach oberflächlicher Inspektion ihrer körpereigenen Mobilausstattung kurzerhand einen Entschluss gefasst - hoch zu Mensch sollte die Lady ihr Ziel erreichen. Und nur seinem ausgezeichneten Trainingszustand sowie ihrem Federgewicht war es schließlich zu verdanken, dass der menschliche Aufbau selbst die Mittelleitplanke der 8-spurigen Autobahn ohne Abwurf überwinden konnte. Beide waren dabei so auf die Bewältigung der Herausforderung fokussiert, dass sie nicht einmal Gehör für die wütenden Hupkonzerte vorbeiziehender Asphaltdampfer fanden.

„Warum wollten Sie eigentlich auf die andere Seite?“, presste Trevor schnaufend hervor, als sie die Fahrbahn überquert hatten und er in die Knie ging, um der Lady den Abstieg zu ermöglichen.
„Wissen Sie, die dort drüben hatten meine Zigaretten nicht im Sortiment. Filterlos, von einer Marke, deren Name nicht genannt werden darf. Der freundliche Herr an der Kasse wies dann aber darauf hin, dass ich diese auf der anderen Seite erhalten würde“, antwortete die Dame erregt, während sie an ihrem Kleid zupfte, das durch den Transport die vorgesehene Fassung verloren hatte. Trevor richtete sich wieder auf und nickte verständnisvoll.
„Nun, dann werden Sie aber auch wieder zurück müssen. Vermute, ihr Wagen ist, ebenso wie meiner, drüben geparkt“, bemerkte er.
„Ja, wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie einen Moment warten würden, während ich kurz meine Besorgung erledige. Den Rückweg könnten wir dann abermals gemeinsam antreten.“
Trevor lächelte die Dame freundlich an, während er tief Luft in seine Lungen sog. Mit einem Handzeichen gab er ihr zu verstehen, dass er warten würde. Sie drehte sich herum und schlurfte zu dem Raststättenshop. Minuten vergingen und nach einiger Zeit sah sie Trevor wieder aus dem Laden treten. Deutlich konnte er den entspannten Ausdruck ausmachen, der sich sogleich auf ihrem Gesicht breit machte, als sie eines der Nikotintorpedos aus dem soeben erworbenen Päckchen fischte und zwischen die Lippen schob.

Der Rückweg gestaltete sich dann ähnlich unkompliziert wie der Hinweg. Wieder zurück am Ausgangspunkt, begleitete Trevor die Dame noch zu ihrem Fahrzeug, das sich als reinrassiger Sportwagen mit einer Motorisierung erwies, die selbst einem Kreuzfahrtschiff gut zu Gesicht gestanden hätte. Herzlich schüttelte sie ihm die Hand, bevor sie in das PS-Monster einstieg, den Wagen startete und mit quietschenden Reifen schwarze Streifen auf dem Asphalt hinterließ. Während Trevor ihr nachwinkte, genoss er das wärmende Bauchgefühl, das sich bei ihm einzustellen begann.

Jeden Tag eine gute Tat, dachte er noch, als er sein Gefährt bestieg und nach Hause steuerte. Der dichte Feierbandverkehr und die Begegnung mit der alten Dame ließ ihn später als gewohnt sein Heim erreichen. Dennoch schien es, als sei ihm das Glück heute gewogen, denn trotz fortgeschrittener Tageszeit konnte er noch einen Parkplatz in Hausnähe ergattern.

Beherzt nahm er die Stufen des Treppenhauses und hatte beinahe die Wohnung im zweiten Stockwerk erreicht, als er von Frau Dinkelhuber abgefangen wurde. Frau Dinkelhuber war eine Dame, die inzwischen auf acht Jahrzehnte erfüllten Lebens zurückblickte und in den in den Räumlichkeiten über den seinen residierte. Trevor wusste um die zunehmende Vereinsamung unter der die alte Dame, seit dem Ableben ihres Mannes, litt. So pflegte er, wann immer sich die Gelegenheit bot, ihr ein Ohr zu leihen. Da seine Abendgestaltung an diesem heutigen Tag eher von unkonkreter Natur war, beschloss er spontan, sich der der Jugendzeit enteilten Dame anzunehmen. Und so kam es, dass er wenig später in ihrer Küche saß – bei einer Tasse schwarzen, heiß dampfenden Kaffees. Während sie genüsslich den frisch gepressten Bohnensaft schlürften, mühte sich Trevor redlich, Frau Dinkelhubers Worten zu folgen. Anders als gewöhnlich kreisten die Sätze diesmal aber nicht um ihren einsamen Alltag und Kindern, die in weiter Ferne sesshaft geworden waren, so dass sich der Kontakt nur noch auf wenige Besuche zu Feiertagen und sporadischen Telefonaten beschränkte. Heute war es anders. Trevors Augen weiteten sich zu Untertassengröße, als Frau Dinkelhuber von Hormonen und weiblichen Bedürfnissen berichtete.
„Ist mir schon aufgefallen, wie Sie mich ansehen und an meinen Lippen hängen“, bemerkte sie mit einem Augenzwinkern, „kein Poblem. Ich bin alleine, Sie sind es und“, fügt sie mit einem Seufzer an, „es ist sehr lange her.“
Trevor dachte kurz nach.
Für Kanzlerin und Vaterland, schoss es ihm durch den Kopf.
„Geht in Ordnung“, sagte er dann, „lassen Sie uns das Bett teilen.“

Ungewohnt war es schon, eine Dame zu küssen, die sich ihrer Dentalbereifung entledigt und einem Brausebad auf dem Nachttisch zugeführt hatte. Ebenso bedurfte es einiger Rücksichtnahme auf die anatomischen Gegebenheiten während des Liebesspiels. Nicht mehr alle Körperteile waren Originalausstattung, wie Trevor im Verlaufe der Nacht erfuhr. Dennoch empfand er die Stunden mit ihr als durchaus befriedigend und lehrreich. Frau Dinkelhuber war eine erfahrene Gegenspielerin mit dominanter Ader, die ihm wohliges Behagen bereitete. Und ganz in der Obhut ihrer wissenden Hände, wurde es zu einem erfüllenden Erlebnis für beide Seiten.

Trevor erwachte am nächsten Morgen, als frischer Kaffeeduft die Wohnung durchflutete.
„Wir sollten reden“, sagte Frau Dinkelhuber während er am Küchentisch Platz nahm.
„Sie sind nett, jung und attraktiv, aber ich suche keine Beziehung. Hoffe, das ist kein Problem für Sie. Mag Sie wirklich nicht enttäuschen, aber für ein Zweitverwertungsrecht bin ich noch nicht bereit“, brach es aus ihr hervor und dabei schaute sie ihn mit ernster Miene an.
Sicher“, entgegnete Trevor und hoffte, seine Kukident - Mata Hari würde nicht den Lärm herabstürzender Granitbrocken vernehmen, die gerade von seinem Herzen fielen, „geht in Ordnung. Hatte keinerlei Erwartungen.“
Frau Dinkelhuber lächelte sichtlich erleichtert und begann ein Frühstück zu bereiten, das sie sich anschließend mit großem Appetit und in entspannter Atmosphäre zuführten. Der Morgen war bereits im Begriff, dem Vormittag zu weichen, als Trevor sich verabschiedete und seine Wohnung aufsuchte, um sich für den Arbeitstag zu rüsten.

Den Tag in der Firma verbrachte er mit den üblichen Aktenbergen und den ebenso üblichen Ablehnungsbescheiden. Unzählige Anfragen zur Erstattung von Versicherungsschäden, die über die Jahre seinen Schreibtisch passiert hatten. Inzwischen las er die Anträge nur noch stichprobenartig. Zumeist schob er das Standardbriefpapier in den Drucker, öffnete die Formularvorlagen an seinem Rechner und platzierte die vorbereiteten Textbausteine unter dem Logo seines Arbeitgebers.
„Freundlichst, Ihre Gentom -Versicherung“, so schlossen alle Schreiben. Trevor fand, dass diese Höflichkeitsformel beinahe ironisch wirkte und wollte sich die Reaktionen auf Empfängerseite gar nicht vorstellen. Dafür genoss er in den Führungsetagen höchstes Ansehen und durfte sich alljährlich über eine großzügige Prämie freuen, sorgte er doch für prächtige Gewinne in seiner Abteilung.
So verlief der Tag ohne nennenswerte Ausschläge auf der Ereignisskala und Trevor beschloss, den Feierabend in seiner Stammkneipe ausklingen zu lassen.

Nur wenige Straßen von seinem Heimathafen entfernt, betrieb Maria das „Einklang“. Eine Anlaufstelle für Einsame, Gestresste und Redselige aus der Umgebung, die sich dort regelmäßig zu kühlen Getränken und kleinen Speisen einfanden. Trevor fand den Laden nahezu entleert vor, als er ihn zu früher Abendstunde betrat. Lediglich ein einzelner Gast hielt einen der Stühle im kleinen Gastraum besetzt und war vollauf damit beschäftigt, die Currywurst auf dem Teller ihrer verdauungsgemäßen Bestimmung zuzuführen.
Trevor bezog einen Platz an der Theke und nickte lächelnd Maria zu, als diese einen Daumen nach oben reckte und ihm damit signalisierte, dass sie in Kürze ein schaumgekröntes Feierabendgetränk servieren würde.
Mit wohlwollendem Blick verfolgte er Maria bei ihren Bewegungen. Betrachtete ihr langes, lockiges Haar, welches ihr hübsches Gesicht umrahmte. Das Aufblitzen der dunklen Augen, wenn sie einen Blick in seine Richtung warf und dabei die vollen Lippen zu einem Lächeln aufwarf. Trevor mochte Maria und war sich sicher, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte.

Einige Minuten später traf die Hopfenbrause ein und als sie diese gekonnt in seine Reichweite platzierte sprach sie ihn an:
„Du hast mir doch mal erzählt, dass Du bei einer Versicherung tätig bist. Stell Dir vor, hatte da kürzlich einen Schaden bei meiner gemeldet. Was meinst Du, haben die geantwortet? Abgelehnt! Nichts, keinen müden Cent werde ich sehen. Ungeprüft eingestampft.“
Wütend schnaubte sie.
„Was war denn passiert?“, fragte Trevor.
„Weltraumschrott. Hat das Dach von meinem Haus durchschlagen und die Badewanne zertrümmert.“
„Du scherzst?“, entgegnete Trevor.
„Sieht das wie ein Scherz aus?“, antwortete Maria und griff unter die Theke. Sie beförderte einen Gegenstand nach oben und warf ihn auf die Theke. Das Ding schepperte laut, als es auf das Holz prallte und Trevor konnte erkennen, dass es sich um ein metallisches Gebilde handelte. Ursprünglich Teil eines größeren Objektes, wie die ausgefransten und von Ruß überzogenen Ränder erahnen ließen. Er griff nach dem Gegenstand, um die Zeichenfolge zu lesen, die die Oberfläche zierte: „CCCP“, gefolgt von einem Stern. Verblasst, aber deutlich sichtbar waren die Buchstaben zu erkennen.
Einigermaßen überrascht betrachtet Trevor das Objekt.
„Sag mal, bei welchem Unternehmen bist Du denn versichert?“
„Gentom heißen die Gangster.“
Trevor hüstelte und nahm hastig einen Schluck aus dem Glas.
„Ok, gib mir mal die Unterlagen. Werde schauen, ob ich etwas erreichen kann.“
Maria griff erneut unter die Theke und beförderte einen Aktenstapel an die Oberfläche, den sie ihm zuschob.
„Danke, wäre echt großartig von Dir.“
Sie lächelte ihn an, beugte sich über die Theke und hauchte einen Kuss auf seine Wange. Trevor genoss die Bauchwärme, die sich in ihm ausbreitete und selbst dann noch anhielt, da er den Kopf auf das Kissen im heimischen Bett legte und zu träumen begann.

Als er am nächsten Tag seinen Arbeitsplatz aufsuchte, verzichtete Tevor auf den Einsatz von Textbausteinen. Alle eingehenden Anträge beschied er positiv. Das tat er auch an den folgenden Tagen und Wochen. So lange, bis die Führungsetage auf seine Aktivitäten aufmerksam wurde und ihm den Austritt nahe legte.

Maria erhielt in der Zwischenzeit einen Bescheid von ihrer Versicherung, in dem sie einen Irrtum einräumte und nun doch für den entstandenen Schaden aufkommen wollte. Von der erstatteten Summe ließ sich Maria einen Whirlpool installieren und lud Trevor zu einem Probebad ein, das dieser in ihrer Gesellschaft genoss.
Das wiederum führte zu dem Beginn einer leidenschaftlichen und andauernden Verbindung, in deren Verlauf aus dem Sachbearbeiter eines namhaften Versicherungsunternehmens ein Kneipenwirt mit Leib und Seele wurde.

Hilfsbereitschaft hin oder her - Geschenke wurden im „Einklang“ nicht verteilt. Der Neue hinter der Theke wusste nur allzu gut mit Zahlen umzugehen, aber wer ein offenes Ohr oder eine brauchbare Currywurst suchte, der konnte dort fündig werden.
Die Nutzungsrechte für Trevors horizontalen Maßnahmenkatalog gegen weibliche Unterleibsdepressionen hat sich allerdings Maria exklusiv gesichert.

© by P.H.