Samstag, 31. Dezember 2011

Winterphantasie

Kalt war es. Bitterkalt. Er schlug den Kragen seines Mantels auf und versuchte die aufkommende Panik zu unterdrücken.
"JANAAA!"
Der Ruf verhallte irgendwo zwischen den schneebeschwerten Bäumen.
Hatte er gehofft, eine Antwort zu vernehmen, so wurde er abermals enttäuscht.
Ungerührt von den Rufen eines Verzweifelten verharrte der Wald in teilnahmsloser Stille.
Gespenstische Ruhe, die nur von den knirschenden Geräusch seiner Stiefel im Schnee gestört wurde.

"JAANAAAA!"
Nichts.
Tief geduckt unter der weißen Last scharrten sich die Bäume um den kleinen Pfad, den er hastig beschritt.
Immer wieder glitten seine Blicke suchend zwischen den Stämmen umher.
Tasteten das weiße Tuch ab, das scheinbar unberührt sich vor ihm ausbreitete.
Verzweifelt forschten seine Augen nach einer Spur, dem rettenden Hinweis.

Er vermochte nicht mehr einzuschätzen, wie lange er bereits durch durch die wilde Landschaft gehastet war.
Müdigkeit breitete sich in seinen Gliedern aus und der Schritt verlangsamte sich zusehends.
Sein Herz pochte rasend und schwer ging der Atem.
Graue Wolken ausgestoßenen Hauchs, die sich in der Luft verloren.

Erschöpft blieb er stehen und sank auf die Knie.
Einen kurzen Moment der Ruhe würde er sich gönnen.
Vor seinen Augen flirrte die Luft, verschwamm und bildete farbige Formen.
Verwirrt schüttelte er den Kopf, der ihm auf die Brust zu sinken drohte.
Schwer die Augenlider.

Mit einem Mal glaubte er irgendwo in naher Ferne eine Gestalt zu erkennen.
Abermals schüttelte er den Kopf als wollte er die Erschöpfung vertreiben, die sich seiner Sinne zu bemächtigen schien.
Doch wie sehr er sich auch bemühte, das Bild wurde seinen Augen nicht entrissen.
Zwar nur schemenhaft erkennbar, aber eine Frau in langen, weißen Gewändern gehüllt.
So weiß wie ihr Haar, das in breiten Bahnen über die Schultern fiel.
Auf ihrem ebenmäßigen Gesicht schien ein Lächeln zu liegen.
"So wunderschön...", durchströmte ihn der Gedanke.

Als bedeutete sie ihm zu folgen, drehte sich die Erscheinung und bewegte sich zwischen Bäumen hindurch.
Mühsam erhob er sich und folgte ihr schleppenden Schrittes.
Einem unwirklichen Drang folgend.

Mehr stolpernd als aufrecht gehend führte es ihn in den Wald hinein.
Es mochten Minuten vergangen sein, als sich die Bäume zurückzogen und den Blick auf eine Lichtung freigaben.
Mit einem Mal spürte er, wie sich die Lebensgeister wieder seiner bemächtigten und ein warmer Strom kraftvoll die Glieder flutete.
Vorsichtig betrat er das Rund und bemerkte friedlich ruhend eine Gruppe Wölfe.
Starke, stolze Tiere mit dichtem, weißen Fell.
Dunkle, warme Augen musterten ihn und ließen die Furcht verblassen.
Vorsichtig trat er näher und sogleich öffnete sich die Gruppe und gab den Blick auf ein Kind frei.
Friedlich schlafend ruhte das Mädchen auf einem Bett aus Zweigen.

"Jana!", rief er mit tränenden Augen.
Das Kind schlug die Augen auf.
"Papa!"
Ein fröhlicher Ausdruck umspielte ihr Gesicht, während sie aufsprang und sich in seine Arme warf.
"Papa, nicht traurig sein, sie haben mich beschützt."

Im Freudentaumel versunken umarmten sie sich und ließen dann suchend ihre Blicke schweifen.

Zwischen den Bäumen mattscheinend eine weiße Gestalt zu erahnen, die lächelnd entschwand - eine Gruppe weißer Wölfe ihr folgend.

© by P.H.

Sonntag, 18. Dezember 2011

Weihnachten 2.0

"Wie mir das auf den Sack geht", stöhnt Santa.
Er nimmt einen tiefen Zug von der mächtigen Tüte, die zwischen seinen Lippen klebt und beobachtet den aufsteigenden Rauch.
Süßlicher Geruch durchströmt die Höhle. Ruprecht schaut ihn mit glasigem Blick an und wiegt bedächtig den Kopf.

"Hättest Dir vorher die Stellenbeschreibung gründlicher durchlesen sollen."
"Hör mal, wenn Du jahrelang von der Hand in den Mund lebst, bist Du dankbar für jedes Angebot."
Ruprecht grinst und schraubt den Verschluss der Whiskeyflasche auf. Goldbraun plätschert die Flüssigkeit in das hohe Kristallglas.

"Rente?"
Santa zuckt mit den Schultern.
"Keine Ahnung, stand nichts im Vertrag dazu."
"Naja, immerhin ist es krisensicher", spöttelt Ruprecht und nippt an dem Glas.
"Von Auslandseinsatz und Reisebereitschaft war die Rede. Hätte ich gewusst, dass das heißen würde, sich am Nordpol den Arsch abzufrieren..."

Ruprecht stößt ein glucksendes Lachen hervor.
"Hey, sieh mal die Vorteile: Prima Luft, ein Dach über dem Kopf und Dienstfahrzeug."
"Dienstfahrzeug? Nicht Dein Ernst. Diesen vorsintflutlichen Schlitten mit Rentierantrieb? Einen nikolausroten Hummer mit weißem Vinyldach hatte ich beantragt."
"Und?"
"Nix und. Abgelehnt", entgegnet Santa seufzend und nimmt einen weiteren Zug an der Tüte.
"Mit welcher Begründung?"
"Ach, Image, Vorbildfunktion, Klimaerwärmung und so."
"Naja, verständlich."
"Ach, verständlich", schnaubt Santa, "dann auch noch diese alberne Dienstkleidung. In dem Outfit tendieren Deine Chancen bei den Bräuten gegen Null."

"Jetzt lass doch mal dieses Gejammer. Andere wären froh, hätten sie Deinen Job. Immerhin hast Du die meiste Zeit des Jahres frei. Bei vollem Lohnausgleich."
"Ist auch der einzig positive Aspekt, ansonsten hätte ich schon längst gekündigt."

Leichtfüßig betritt Angelina den Raum. Santa heftet seine wohlwollende Blicke auf ihre Gestalt und den Formen, die sich unter dem Hauch von Engelsgewand abzeichnen.
"Santa, Schatz, ein neuer Auftrag. Ich weiß, eigentlich hättest Du schon Feierabend, aber sei doch bitte so lieb."
SIe lächelt verführerisch und stöhnend erhebt sich Santa von dem Stuhl.
"Ok, weil Du es bist.."
"Die Überstunden bekommst Du zusätzlich vergütet und wenn Du zurück bist, werde ich Dir eine wohltuende Massage angedeihen lassen."
Ein zufriedenes Lächeln huscht über Santas Gesicht.
"Sicher, meine Liebe, bin schon im Einsatz!"
Sprach`s und war verschwunden.

"Der kommt bald wieder", grinst Ruprecht und hebt sein Glas in Agelinas Richtung, "Cheers - auf Weihnachten."

© by P.H.

Festliche Szenen

"Wann kommt denn diese Vollfluppe von Weihnachtsmann?"
Der Sprößling hat den Kopf in den Kamin gesteckt und leuchtet mit seiner LED-Lampe den Schacht aus.
"Geh da weg", ruft Mutter wobei sie die Worte langsam und gedehnt spricht.
Das Reden erfordert die ganze, eierlikörgetrübte Konzentration. Der Blick ihrer glasigen Augen ist dabei starr auf die Mattscheibe gerichtet.
Vater thront in seinem Sessel und starrt ebenso gebannt auf die Flimmerkiste.
Penetrant fröhliche Menschen tanzen über den Bildschirm und trällern stimmungshaltige Volksweisen.
Reichlich funkelnder Glitzer und Kunstschnee rieseln horizontal über das Gerät.
Der dauergrinsende Moderator ignoriert gekonnt das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Publikums und reitet Attacken gegen den guten Geschmack.

Schwiegermutter hat sich abgemeldet. Schon vor Stunden.
Ihr Kopf ruht auf der Brust und ohrenbetäubendes Schnarchen dringt aus der Kehle.
Vater fummelt wieder an der Fernbedienung, um das Sägewerk zu übertönen.
Junior schiebt sich Weihnachtsgebäck in den Mund und beobachtet interessiert wie sich der Speichel an Schweigermutters Kinn sammelt und auf ihr Kleid tropft.
Irgendwie fühlt er sich an den Bernhardiner der Nachbarn erinnert.

Als es klingelt springt Junior auf und sprintet zu Tür.
Im Eingang steht ein älterer Herr. Freundlich lächelt er ihn an während er den weißen Rauschebart streicht.
Einzelne Schneeflocken haben sich auf Mütze und Jacke seiner roten Bekleidung niedergelassen
"Hohoho, mein Kleiner, drauß´ vom Walde komm ich her."
Der Kleine schaut ihn an und verzieht das Gesicht.
"Alter, wie siehst Du denn aus?"
Sichtlich irritiert und mit gefrirendem Lächeln stammelt der Besucher: "Aber...aber... ich bin doch der Weihnachtsmann."
"Maaan, mach doch keinen auf Laberkasper. Santa ist cool, der kommt durch den Kamin."
Dabei misst er ihn mit abschätzigem Blick.
"Ach, weißt Du, die Knochen...ist alles nicht mehr so wie früher..."

In desem Moment schallt Vaters genervte Stimme aus dem Wohnzimmer: "Wer hat denn da geklingelt?"
"So´n Kalkbunker im Strampelkostüm", tönt Juniors Stimme durch den Flur.
"Was will der denn?"
"Keine Ahnung, meint, er wäre der Weihnachtsmann."
Aus dem Wohnzimmer dringt Gelächter.
"Sag ihm, wir kaufen nichts. Auf dem Regal in der Küche steht noch ein Jägermeister - gib ihm das."
Junior spurtet los, holt das Fläschchen und wirft es dem Besucher zu.
"Da, Alter, hau rein und nerv net mehr."
Mit lautem Knall wirft er die Tür ins Schloss und trabt zurück in das Wohnzimmer.

Mutter schaut ihn an und schüttelt den Kopf.
"Du sollst doch nicht immer so laut die Türen schlagen."
Das Sprechen fällt ihr sichtlich schwer.
Junior ignoriert sie, schnappt sich seine Lampe und stiefelt zum Kamin.

© by P.H.

Samstag, 10. Dezember 2011

Sommerloch

Es war einer dieser extrem heißen Sommertage. Die Luft flimmerte über dem Asphalt und ließ Phantasiegebilde entstehen.
"Pass auf, Papa", hatte meine Tochter gesagt, "denk an die Sommerlöcher."
Ich nickte ihr grinsend zu, schnallte den Helm um und schwang mich auf das Mountainbike.
"Keine Sorge, Prinzessin", rief ich ihr zu und steuerte das Rad aus dem Hof.
"Bis später !"

Warmer Wind strich mir entegegen, die dicken Profilreifen sangen eine wohklingende Melodie auf dem Straßenbelag.
Rundum zufrieden drückte ich den Knopf des mp3-Players und spürte das Adrenalin durch den Körper strömen, als die Beats meine Trommelfelle erreichten. Schnell ließ ich die Häuser hinter mir und rollte über einsame Asphaltpisten dem Wald entgegen.

Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, als die kleine Straße eine enge Kurve beschrieb und ich die Bremse betätigte, um in angemessener Geschwindigkeit die Kehre zu nehmen.
Zu spät war das Loch in der Fahrbahn zu erkennen, das sich plötzlich unmittelbar hinter der Biegung vor mir auftat. Die kraftvolle Betätigung der Hebel hatte zur Folge, dass die Räder blockierten und ich in einem eleganten Bogen über mein Bike katapultiert wurde. Im Ansatz des unfreiwilligen Kopfsprunges sah ich die Straßenöffnung auf mich zukommen, als mich Dunkelheit verschluckte. Es mochten nur wenige Sekunden Fall vergangen sein, als ich unsanft aber nicht hart aufschlug. Irgend etwas hatte meinen Sturz gedämpft.

Auf den ersten Blick war zu erkennen, dass der Boden mit Unmengen von Stroh bedeckt war. Meine Ellenbogen schmerzten, offensichtlich hatten sie unter dem Aufprall leiden müssen. Ich spähte nach oben und sah über mir die Öffnung, durch die ich gestürzt war. Unerreichbar weit - es mochten gut und gerne 20 Meter sein.
Der höhlenartige Raum, in dem ich mich befand, schien gewaltige Ausmaße zu haben. Wände oder andere Begrenzungen waren auf den ersten Blick nicht auszumachen. Vorsichtig versuchte ich aufzustehen und bemerkte erleichtert, dass nichts gebrochen zu sein schien.

"Willkommen in deinem Sommerloch !"
Erschrocken fuhr ich herum und erspähte in einiger Entfernung eine kleine Gestalt, die sich hinter einem tischartigen Gebilde räkelte.
"Tritt näher und nimm Platz, mein Freund"

Ich schlurfte zu dem Wesen und bezog auf dem strohbedeckten Boden gegenüber Position. Das Männlein schien mir von kleiner Statur zu sein, offensichtlich sehr betagt und das Gesicht kaum auszumachen, wurde es doch von einem wild wuchernden, weißen Bart nahezu vollständig verdeckt. Lediglich zwei fröhliche Augenpaare blickten mich neugierig an.

"Na, hättest du mal auf deine Tochter gehört", sagte das Wesen.
Ich seufzte und nickte mit dem Kopf.
"Ja, in solchen Dingen hat sie wohl seherische Fähigkeiten."

Der Alte verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen und zog zwischen den Falten seiner Kutte ein Kartenspiel hervor. "Five Card Draw ?", fragte er und ließ die Karten zwischen seinen Fingern tanzen.
Ich dachte kurz nach, lag doch meine Pokerzeit schon lange zurück. Landschulheim 1982 mochte es gewesen sein.
"Ist das die Variante mit 5 verdeckten Karten und 3 Tauschrunden ?", fragte ich. Er nickte und begann auszuteilen.

"Du spielst nicht - wie kommt das ?", hakte er nach.
"Naja, schlechte Erfahrungen gemacht", antwortete ich.
"Erzähle mir davon", forderte er mich auf.
"Es war diese Sache, als meine Freundin mal aufschnappte, wie ich von Sabine und Michaela schwärmte."
Der Alte runzelte fragend die Stirn.
"Naja, ich erklärte ihr, dass es sich um ein Damenpärchen handeln würde, mit dem ich vergangene Nacht die Pokerrunde gewinnen konnte."
"Ja und ?"
"Als ich am nächsten Tag nach Hause kam, erwartete mich meine Freundin mit einem Koffer in der Hand - das Damenpärchen hatte angerufen..."
Der Alte grinste, "Verstehe."

Das Spiel begann und die Siegerfront wechselte ständig. Im letzten und entscheidenden Durchgang war mir das Glück hold.
Ich zog die grüne 4 und eine “Du kommst aus dem Gefängnis frei”- Karte, er erwischte den schwarzen Peter und warf wutschnaubend das Blatt auf den Tisch. "Ok, du hast gewonnen."

Erleichtert wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Im nächsten Moment fand ich mich auf der Straße wieder. Mein Bike nur wenige Schritte von mir entfernt und weit und breit keine Straßenschäden zu erkennen.

Ich schwang mich auf das Rad und trat den Heimweg an. Keine Silbe über mein Erlebnis zu Hause.
Eines ist gewiss: Künftig werde ich meiner Tochter mehr Gehör schenken und mich mit offenen Augen durch die Landschaft bewegen.

© by P.H.

Donnerstag, 3. November 2011

Von den Socken

Bisher blieb mir für Betroffene nicht mehr als ein müdes Lächeln, jetzt lässt es sich nicht mehr leugnen – ich bin Opfer. Opfer der WSE. Mitleidende werden wissen, wovon ich rede: Der waschmaschinenbedingten Sockenelimination.

Mit erschreckender Klarheit wird mir dieses bewusst, als ich gerade eben unbestrumpft in dem Schuhmarkt meines Vertrauens gastiere.
„Die hier - 100% Baumwolle, schwarz und mit verstärkten Nähten.“
Sie schwenkt einen Packen Fußhüllen vor meinen Augen und kaut dabei Kaugummi, als wollte sie diesen in seine atomaren Bestandteile zerlegen.

Schuhverkäuferinnen sind eine besondere Spezies, denke ich noch und blicke amüsiert in ihre großen Kulleraugen, die aufmerksam meine Reaktion verfolgen als würden sie ein großes Geschäft wittern. Kaum zu erwarten bei dieser Fernostware.

„Bummerangsocken würde ich benötigen, aber die sind auch ok.“
„Hääh?“
Ihre Augen haben inzwischen annähernd Kaffeepadgröße erreicht und das Mahlen des Kiefers wirkt irgendwie hektisch.
„Was soll denn das sein?“
„Na ja, Socken, die immer wieder zu ihrem Besitzer zurückkehren“, meine ich mit todernster Miene.
Sie lächelt gekünstelt und ihr Blick scheint mich der Hirndielenfraktion zuzuordnen.
„Dann nehme ich diese. Geben sie mir zwei von dem Fünfer-Pack.“

Kullerauge fischt die Ware aus dem Regal und bewegt sich mit einladendem Hüftschwung zur Kasse, wo sie mich gekonnt um den geforderten Bargeldbetrag erleichtert.

Erfreut wende ich mich dem Ausgang zu – ganz in luftiger Erwartung, das Ende der barfüßigen Zeit einzuläuten.

Zu Hause ist es ruhig. Die Schublade, in der sich einst eine bunte Sockenschar tummelte, blickt mich aus leerer Untiefe traurig an. Tröstend streiche ich über das Holz und spende dem Fach aufmunternde Worte, die von einer Neubesiedelung künden.

Ungepflegt soll die Wohnstätte allerdings nicht bezogen werden – Zeit für ein Vollbad in der Waschmaschine.
Widerstandslos lässt sich die Fremdkörperfalle mit einigen gebrauchten sowie den fabrikneuen Textilien füttern und nimmt, nach Zusatz von Reinigungsbeschleunigern, willig ihren Dienst auf.

Während die Kleiderschleuder rotierend ihrer Bestimmung folgt, gönne ich mir eine Auszeit und zappe mich durch Entertainmentkloake des Kanalreiters. Irgendwelche Teenies dissen andere Teenies, Paare bewerfen sich mit Omas Porzellan und Experten diskutieren über die gesundheitlichen Folgen von Erdstrahlen. Keine Überraschung bei der Bilderfürsorge.

Irgendwann bebt der Boden. Tektonische Plattenbewegungen als Ursache schließe ich spontan aus und warte daher gelassen das Ende des Schleuderganges der Waschmaschine ab.
Wenige Minuten und eine abstruse Gerichtsverhandlung später kehrt Stille ein und ich mache mich auf den Weg, um die gesäuberten Textilien der Trommel zu entnehmen.

Hosen, Shirts und Unterwäsche gleiten durch meine Hände. Etwas fehlt. Frustriert halte ich inne - von den Socken keine Spur. Verzweifelt und kopfwärts in der Maschine wird die Trommel einer Inspektion unterzogen. Kühl, beinahe hämisch glänzt mich das Metall an. Kalte Leere. Nichts. Die neuen Fußgewänder bleiben verschollen.

Resigniert sammele ich die feuchten Textilien ein und klemme sie an die Leine. Mein Leben erscheint mit einem Mal leer und strumpflos. Sockenkrise pur.

Es ist spät am Abend, als ich ermattet das Bett aufsuche, um mich in den Schlaf zu weinen. Kaum hat jedoch mein Kopf Kissenkontakt aufgenommen, fallen die Augen zu und tiefer Schlaf ergreift von mir Besitz.
In dem Traum bin ich ein Fuß und betrete das verborgene Reich waschmaschineneliminierter Socken. Es ist eine fröhliche und bunte Welt. Weiße Tennissocken mit blauen Streifen in friedlicher Koexistenz neben Kniestrümpfen. Snoopy-Söckchen und Micky Maus-Strümpfe harmonisch vereint. Alle toben, lachen und schmeicheln meinen Zehen.

Ein blauer Wollsneaker ist es schließlich, der mir dann von Portalen erzählt, die manche Waschmaschinen öffnen und Socken den Übergang in diese Welt ermöglichen. Irgendwie berührt es mich und lässt meinen Kummer verfliegen.

Als ich wieder wach werde, lacht die Sonne vom Himmel und lässt mich einen Entschluss fassen: Meine Klamottenschleuder wird nun zum Tor in die Sockendimension.
Von diesem Tage an ermögliche ich Fußtextilien regelmäßig den Übergang in eine andere Sphäre. Eine Aufgabe, die mich mit beglückender Zufriedenheit erfüllt.

Kullerauge hat sich inzwischen an meine wöchentlichen Besuche gewöhnt und hält stets unterschiedliche Modelle für mich griffbereit. Irgendwann werde ich sie zum Essen einladen und ihr von anderen Welten erzählen. Vielleicht wird sie es verstehen und möglicherweise sogar hin und wieder für mich waschen.
Also nur Socken. Ist bitterkalt - so ganz ohne im Winter.

© by P.H.

Samstag, 29. Oktober 2011

"Piep"

Der Wecker nervt. Gibt jammernde Geräusche von sich. Einen penetranten
Piepton, als könnte er es nicht ertragen, mich schlafend zu sehen.

Träge lasse ich meine Hand auf den Wach-Schalter fallen. Glatt gelogen. Von
wach kann nicht die Rede sein, aber anders wird sich der Bursche nicht zum
Schweigen lassen bringen.

In einem Zustand zwischen Tiefschlaf und horizontalem Stehen beobachte ich
aus der Ferne, wie sich mein Körper erhebt, in die Küche schlurft und Kaffee
bereitet. Morgendliche Routinetätigkeit. Tausendfach absolviert und für
halbwegs geeignet befunden, um sich einem wachartigen Stadium anzunähern.

Die für den heutigen Tag geplante Garderobe droht in Gefahr zu geraten, da
die Jeans noch Restfeuchtigkeit aus dem vorangegangenen Waschprogramm
exportiert hat. Das Kurzprogramm des Trockners wird sie in Tragebereitschaft
versetzen. Schnaufend läuft die Maschine an und verschafft mir die nötige
Zeit, um ein komprimiertes Pflegeprogramm zu absolvieren.

Auf dem Weg in das Hygienezentrum füttere ich die Mikrowelle mit einigen
Brötchen aus dem Tiefkühler. Auftauen und Grillen. Ein Hoch auf die
fabelhafte Welt der modernen Lebensmittelbereitung.

Unter der Dusche verkünden schüchtern einige Lebensgeister von ihrer
Existenz. Allmählich kehrt das Licht- und Farbempfinden zurück und während
ich noch Wasserreste mit dem Handtuch beseitige, klingen Geräusche aus der
Küche, die von der Fertigstellung gestarteter Aufträge zeugen.

Die Kaffeemaschine piept und weist mich nervös auf ihren Status hin. Ich
schalte sie aus, greife nach einer Tasse und wende mich dem Kühlschrank zu,
um diesem etwas Milch zu entnehmen. Der frostige Kollege piept aufdringlich,
weil bei vorangegangener Entnahme der Mehlprodukte die Klappe von mir nicht
sachgemäß geschlossen wurde. Nun meckert der Bursch über steigende
Temperaturen. Pingeliges Teil. Trotz Behebung des Problems tönt er weiter.
Finde den Schalter zum Deaktivieren des Signales nicht.

Das Handy piept und weist mich auf einen bevorstehenden Termin hin.
Arztbesuch am Nachmittag. Check beim Heilkundigen für Kopfflossen. In der
letzten Zeit werde ich immer wieder von lästigen Pieptönen heimgesucht.

Apropos Piepen. Das lässt nun auch der Trockner hören und meldet damit
Vollzug.
Die Jeans ist in einem tragbaren Zustand. Ich entnehme das Beinkleid und
schlüpfe hinein.
Irgendwo piept es und die Ortung gelingt mir nicht auf Anhieb. Erst nach
einigen Irrläufen lässt sich der Wecker als Quelle ausmachen. Das
aufdringliche Biest will sich nicht mit meiner offensichtlichen Bettferne
begnügen und mahnt erneut zur Wachsamkeit. Die Taste zur dauerhaften
Schweigsamkeit lässt sich nicht finden.

Liegt zu großen Teilen daran, dass Rauchschwaden durch die Luft ziehen. Dies
geht Hand in Hand mit einer spürbaren Abnahme der allgemeinen Sicht- und
Luftqualität. Panik erfasst mich auf dem Weg zur Küche. Durch die
Nebelschwaden ist das Piepen der Mikrowelle zu hören. Nachdem der Weg zu der
Maschine ertastet ist, entnehme ich die qualmenden Brötchenbriketts der
Maschine und beschließe sie der nächsten Grillveranstaltung als
Holzkohleersatz zuzuführen.

Das Handy piept erneut und kündet freudig vom Empfang einer SMS. Irgendeine
Werbung. Hausratsversicherung oder so.

Der Kühlschrank sendet weiterhin seine monotone Botschaft und erneut schlägt
der Wecker an. Ich öffne das Fenster und entlasse die Rauchschwaden in die
Freiheit. Dabei versuche ich mich in einen seelenbaumelnden Zustand zu
versetzen. Das tiefe Durchatmen lässt mich allerdings in heftige
Hustenattacken verfallen. Unter gehauchter Pressatmung schließe ich die
Augen und zähle leise vor mich hin. Bei 497 ertönt lautstarkes Piepen.
Beinahe ein Heulen. Spät, aber bestimmt meldet sich der Rauchmelder im Flur
zu Gehör. Billigware aus dem Baumarkt. Sonst ein schweigsamer Geselle,
verfällt er nun in aufdringliche Anwesenheitsbekundungen.

In meinem Kopf tönt und pfeift es, als wäre die Jamba-Zentrale zwischen den
Ohren. Aus der Kehle dringt trockenes Lachen, das von resignativer
Verzweiflung zeugt.
Mit letzter Kraft taste ich nach dem Handy, um der Dispoberaterin meiner
Hausbank einen letzten Willen zu formulieren. Die Pläne scheitern, weil das
Handy noch einmal piept, um mir seinen kritischen Ladezustand zu
signalisieren und erlischt anschließend.

Irgendwo ertaste ich den Autoschlüssel und stürze aus der Wohnung.
Wohltuende Stille umgibt mich auf dem Platz hinter dem Steuer. Der Motor
startet und im selben Moment ist eine blinkende Warnlampe auf dem Display zu
sehen. Treibstoffvorrat neigt sich dem Ende zu. Der Kollege zapft nun die
Reserven an. Das Piepen mahnt mich zum baldigen Tankstellenbesuch.

Den verschiebe ich, lasse den Wagen am Waldrand stehen und flüchte in die
stille Einsamkeit der Natur. Irgendwo auf einer Lichtung findet sich ein
Platz zur besinnlichen Einkehr. Setze mich dort nieder und genieße die
Abwesenheit jeglicher Warnsignale. In naher Ferne sehe ich einen Traktor
seine Bahnen über die Felder ziehen. Bei jedem Erreichen der Ackergrenze
piept die Landmaschine…

© by P.H.

Donnerstag, 27. Oktober 2011

Daumen hoch

Friedhorst war ein echter Siegertyp. Wirklich. Nein, das hatte nichts mit seinem Vornamen zu tun. Zumindest nicht unmittelbar. Vielmehr war es seiner unwiderstehlichen Sogkraft gegenüber dem weiblichen Geschlecht geschuldet. Das manifestierte sich auch bei jener Sache mit Antonia. Die hatte ihn über diese Plattform aufgespürt, wo man sein Autokennzeichen hinterlegen kann. Das hat nun nichts mit Sympathiepunkten in Flensburg zu tun, ist eher so ein Flirtding. Kannst dein Nummernschild angeben und andere Verkehrsopfer, denen du in irgendeiner Weise aufgefallen bist, können dich dort ausfindig machen. Sei es zur Belehrung oder Lebensabschnittsbegleitungsanbahnung.

Friedhorst hatte von dieser Plattform in einem chinesischen Glückskeks gelesen und fand die Idee irgendwie cool. Spontan meldete er sich an. Getan hat sich da allerdings zunächst gar nichts. Nicht mal schnöde Absichtserklärungen zur körperlichen Züchtigung von irgendwelchen Feierabendschumis. Dann kam aber der Tag, als er in de Supermarkt fuhr und sich nicht entscheiden konnte, wo auf dem leeren Parkplatz er seinen rollenden Wertstoffhof abstellen sollte. Nach einigen Wendenmanövern fand er ziemlich zielsicher „Georgs Currytreff“. Wie beide, sowohl Georg, als auch Friedhorst, erkennen mussten, bot die Frittenschachtel keine hinreichende Parkfläche, um einen handelsüblichen Mittelklassewagen kollateralschadensfrei in dem Verkaufsraum unterzubringen. Glücklicherweise blieb es lediglich bei Materialdefekten und dem Bad in der Menge für Friedhorst. Herbeigeströmte Passanten hatten sein Manöver mit anerkennendem Rufen und stehenden Ovationen gewürdigt. Irgendwo in dieser Menge hatte sich auch Antonia befunden. Die, die ihn dann später über das Kennzeichen aufspürte.

„Bin auch bei wkw“, hatte er ihr geantwortet.
Augeschrieben lautet das: „Wer kennt wen“. Ist so eine Plattform, auf der dich Menschen in ihre Freundesliste einladen, von denen Du hofftest, du würdest ihnen nie wieder begegnen. Weder real noch virtuell.
Ok, das war bei Antonia anders. Die fand er echt nett. Gemeinsam waren sie dann federführend in eine dieser Gruppen tätig gewesen: Züchtung von Brunnenkresse in deofreien Achselhöhlen oder so.

Nicht lange, dann glaubte er rosafarbene Wattewolken in der Magengegend zu spüren und vertraute ihr an, auch bei facebook registriert zu sein. Antonia zeigte sich erleichtert, waren ihr doch bereits erste Zweifel gekommen, einen medialen Outlaw aufgesessen zu sein. Nein, Friedhorst war ganz offensichtlich ein Kerl, der mitten im Leben stand. Geradezu gerührt war sie, als er das Foto von 2 qm Hund auf der A5 an ihre Pinnwand postete und mit „Asphaltdeko“ betitelte. Daumen hoch und „gefällt mir“ hatte sie sogleich kommentiert.

Das mit den Daumen ist so ein facebook-Ding. Daumen, die himmelwärts zeigen gibt es hier waggonweise und inzwischen nicht nur da. Eigentlich überall. Manchmal träume ich schon davon. Angeblich träumen Menschen ja immer. Ist nur nicht stets bewusst. Jedenfalls, wenn ich so einen bewussten Traum habe, dann kann der schräg sein. Erotisch oder einfach nur abgefahren. Kommt schon mal vor, dass ich am Ende der mentalen Kinoaufführung im Abspann nach dem Daumen suche. Zumindest wenn die Bilderflut unterhaltsam war.
„Gefällt mir“, Steht unter dem Finger. Soll heißen, dass du das cool findest, was du da siehst und es gibt nichts, was nicht einen Fanclub hätte. Also, kannst beispielsweise den Morgenauswurf deiner tuberkulosekranken Schwiegermutter in Full-HD filmen und dort an die virtuelle Wand tackern. Garantiert wird sich sehr schnell eine Gemeinde finden, die dich als neuen Messias expressiver Alltagskunst feiert oder so.
Egal.

Jedenfalls kam es, wie es kommen musste: Er lud sie nun auch zu Twitter ein. Die Sache begann allmählich intime Züge anzunehmen und sie fühlte sich in hohem Maße geschmeichelt. Nun vermochte Antonia jede seiner Aktivitäten zu verfolgen, denn Twittern ist so etwas wie der Kommunikationsolymp.
Stehst mit deinem Handy im Aldi und fragst die Gemeinde um Rat – real time:
„Soll ich das feuchte Toilettenpapier in ungebleichter Ausführung oder das mit Aloe Vera erwerben?“
Klar, früher hast du solche Entscheidungen selbst getroffen. Retrospektiv betrachtet geradezu fahrlässig, wenn es doch Menschen gibt, die auf dem Gebiet der Hygiene verlängerter Rückenmarksregionen über einen Erfahrungshorizont verfügen, der deinen um ein Vielfaches übersteigt.

Jedenfalls wollte ihr Friedhorst nun auch seine künstlerische Schattenseite offenbaren. Er war äußerst musikalisch und vermochte täuschend echt den Gesang von paarungswilligen Süßwasseralligatoren nachzuahmen. Dazu ließ er begleitend Händels Wassermusik klingen. Ein audiophiles Kleinod. Antonia konnte sich gar nicht satt hören, nachdem sie seiner Einladung auf MySpace gefolgt war.
Zur Erklärung sei gesagt, dass Myspace in erster Linie auf Kreative abzielt. Künstler. Hauptsächlich Musiker und so. Hier findest du beispielsweise Menschen, die „Old MacDonald had a farm“ rückwärts rülpsen können.
Das nur nebenbei.

Letztendlich war es irgendwann so weit und es kam zum Showdown im Messenger. Terminkalender wurden befragt und Wagen betankt. Die beiden haben sich getroffen. Also real. Saßen sich in der Autobahnraststätte gegenüber. Bei Automatenkaffe und Roland Kaiser aus den Deckenlautsprechern.
„Wie war die Fahrt?“
„Ok.“
„Deine?“
„Auch ok.“
„Und sonst?“
„Gut und selbst?“
„Passt schon, muss ja.“
„Schön.“
„Du, bin auf dem Sprung.“
„Ja, ich auch.“
„Wir lesen uns.“
„Klar.“

So schnell, wie sie erschienen waren, verschwanden auch beide wieder. Jeder für sich und gleichermaßen erleichtert. Erleichtert darüber, dass diese Begegnung ohne weitere Folgen geblieben war.
Wie auch immer - der Kontakt zwischen ihnen blieb bestehen und wurde zu einem Bestandteil beider Tagesroutinen - auch wenn Antonia nach anderen Kennzeichen schielte und Friedhorst eimerweise chinesische Glückskekse konsumierte.

Montag, 24. Oktober 2011

Endstation Sehnsucht

Der stählerne Wurm schlängelt sich in rasendem Tempo durch dunkle Röhren unterhalb der Stadt. In regelmäßigen Abständen stoppt er seine Fahrt, öffnet Luken, entleert Teile seines Inhaltes und erhält neue Füllung. Immer und immer wieder.
Ein mechanischer Wiederkäuer, gefangen in der Endlosschleife, denkt Anna und schüttelt sich bei dem Gedanken, im Verdauungstrakt eines künstlichen Wesens durch unterirdische Höhlen geschossen zu werden – als Bestandteil eines gewaltigen Stoffwechsels. Fest umklammert sie die Haltestange und konzentriert sich auf das rhythmische Geräusch der Räder, die über Schwellen tanzen. Der Takt verliert an Geschwindigkeit, wird leiser und verschwindet schließlich ganz, als der Zug die nächste Station anfährt.

In den Wagon kehrt mit einem Mal geschäftige Bewegung ein. Viele der Fahrgäste geben besetzte Plätze auf und drängen zu den Türen. Anna presst sich zwischen entgegenkommenden Körper hindurch und steuert eine der freiwerdenden
Sitzgelegenheiten an. Mit einem Seufzer lässt sie sich in das dünne Polster fallen
und befördert mit der Rechten die Tüte an ihrer Seite auf die Knie.
„Schmutzige Wäsche – unser Geschäft!“ prangt in weißen Lettern auf der
Plastiktasche.
Anna hebt eine Seite an und lässt ihren Blick prüfend über den Inhalt gleiten. Der Stapel
weißer, in Zellophan gepackter Hemden hat von seiner Ordnung eingebüßt. Die
Textilien liegen nicht mehr Kante auf Kante. Befürchteter Kollateralschaden. Eine Folge
der drängenden Enge in dem Zug. Sie wird die Kleidung zu Hause nochmals
bügeln müssen. Hermann wird die Falten in den Hemden bemängeln und sie
nachdrücklich auf die Behebung des Missstandes hinweisen.
„Mit diesem Faltenrock kann ich meinen Kunden nicht unter die Augen treten,
Liebes. Das verstehst du doch?“
Sie würde schuldbewusst nicken, das Bügeleisen aus dem Schrank nehmen und
sich, unter seinen prüfenden Blicken, sofort an die Arbeit begeben.
Selbstverständlich sollte Hermann mit einwandfreier Oberbekleidung auftreten. So, wie es ihr seine Mutter einst gelehrt hatte. Damals, als sie mit seinem Sohn die erste gemeinsame Wohnung bezog - unmittelbar nach der Hochzeit. Gerda hatte ihr einige wohlmeinende Instruktionen auf den Weg gegeben.
„Siehst du hier – immer Kante auf Kante und dann von der Mitte nach außen
bügeln.“
Anna hatte es sehr schnell gelernt – selbst unter den kritischen Augen der Schwiegermutter. Und innerhalb kürzester Zeit waren die Ergebnisse ihren Ansprüchen gewachsen gewesen.
„Naja, ganz ordentlich“, hatte diese schließlich kommentiert, aber der Unterton in ihren Worten war keiner, der von aufrichtige Anerkennung durchtränkt schien.

Anna lauscht dem kraftvollen Summen des Elektromotors, als der Zug wieder Fahrt
aufnimmt und in kürzester Zeit die vorgesehene Höchstgeschwindigkeit erreicht. Dumpf dringt ein polterndes Geräusch durch die Wände des Wagons, da dieser im nächsten Moment einige Weichen passiert. Leichte Beben folgen, die die Fahrgäste vibrieren lassen. Keiner der Anwesenden zeigt sich beeindruckt. Der ältere Herr zu ihrer Linken ist immer noch in seiner Ausgabe der Tageszeitung versunken und das Paar, wenige Sitzreihen weiter, verharrt im Stadium eines scheinbar endlosen Kusses. Niemand der
Mitfahrenden scheint Notiz von der lippenverwobenen Gefühlseinheit zu nehmen. Interessiert bemerkt sie, dass der männliche Teil des Paares ein dunkles Shirt trägt. Kein Hemd und auch nicht weiß.
Was, wenn das Bügeleisen heute kalt bliebe?, schießt es ihr plötzlich durch den Kopf.

Jäh wird Anna in ihren Gedanken aufgeschreckt, als mit einem Mal die rasante Fahrt unterbricht und der Zug unter ohrenbetäubendem Quietschen zu einem Bremsmanöver ansetzt. Ein dumpfes Poltern ertönt während die Bahn zum Halten kommt, gefolgt von einem Ruck, der die Kabine erfasst und sämtliche Fahrgäste den Gesetzen der Massenträgheit folgen lässt. Mit entsprechenden Folgen - einige rutschen von den Sitzen und finden sich, unsanft gelandet, auf dem Wagenboden wieder oder in unfreiwilligem Körperkontakt mit der gegenübersitzenden Person. Stehende Mitreisende, die sich nur mangelhaft Halt verschafft hatten, werden stolpernd und fallend von einer unsichtbaren Leine durch den Wagon gezogen. Schreckensrufe, Flüche und vereinzeltes Lachen mischen sich mit aufkommendem Stimmgewirr. Amüsiert beobachtet Anna das Treiben, zufrieden mit ihrer Entscheidung, einen Sitz gegen die Fahrtrichtung gewählt zu haben. Lediglich ein unbeabsichtigtes Kopfnicken hatte das Bremsmanöver bei ihr ausgelöst, als sie für einen kurzen Moment in den Sitz gepresst wurde. Ebenso mag es dem älteren Herren neben ihr ergangen sein, der nun seine Zeitung zusammenfaltet und aus dem Fenster starrt.
„Nicht schon wieder“, murmelt er vor sich hin.
Bevor Anna seinen Gedanken folgen kann, ertönt ein kurzes Knacken in den Lautsprechern des Wagens, die eine Durchsage ankündigen.
„Wir bitten um Entschuldigung für diesen Nothalt. In wenigen Minuten wird die Fahrt fortgesetzt. Verlassen Sie nach Möglichkeit ihre Plätze nicht.“
Anna starrt nun auch durch das Fenster in Richtung des Triebwagens. Im Halbdunkel der Röhre lassen sich allerdings nur schemenhafte Strukturen ausmachen. Es scheint, als hätte der Zugführer seine Kabine verlassen, da die Türe zu seinem Kontrollstand offen steht. Sekunden vergehen ohne erkennbare Bewegung im Tunnel, als der wippende Schein einer rasch näher kommenden Taschenlampe erkennbar wird. Der Lichtkegel kreist über die Wände des Schachtes und für einen Moment wird die Gestalt einer Person sichtbar, die sich in kniender Position auf den Gleisen befindet.
„Hm“, hört sie plötzlich die Stimme ihres Sitznachbarn, „das ist schon der Zweite in dieser Woche.“
„Der Zweite?“, fragt Anna.
„Ja, die spazieren in einen dieser Tunnels, setzen sich auf die Schienen und hoffen, dass es schnell geht.“
Sie sieht ihn an und bemerkt, wie eine ernste Mine das faltige Gesicht des älteren Herren besetzt hat. Mit einer Hand reibt er sich über die Stirn.
„Aber, das ist ja schrecklich“, entfährt es Anna.
„Gute Frau, das ist es. Schlimm, dass manche Menschen den letzten Vorhang frühzeitig fallen lassen. Schrecklich, dass ihr Schlussakkord einem unfreiwilligem Publikum durch Mark und Bein fährt.“
Anna nickt nachdenklich.
„Was passiert jetzt?“
„Nun, er wird abtransportiert und vermutlich irgendwo untergebracht. Weg von dieser dunklen Bühne.“
Anna wendet den Blick ab und betrachtet die Tüte, die auf ihren Beinen ruht.
„Schmutzige Wäsche – unser Geschäft!“, prangt immer noch in großen Lettern auf dem Plastik. Gedankenversunken streicht sie darüber. Nur wenige Momente, dann geht erneut ein Ruck durch den Wagen und der Zug nimmt wieder Fahrt auf.

Bald erreichen sie die übliche Reisegeschwindigkeit – als hätte es keine Unterbrechung gegeben. In der Kabine bewegt sich die Atmosphäre rasch in Ausgangslage zurück. Vereinzelt tuscheln Reisende miteinander und wiegen ernst die Köpfe. Das in Leidenschaft entbrannte Paar hält sich nun umarmt und ein ziemlich finster dreinblickender Mann mittleren Alters scheint sie mit dem körpereigenen Radar erfasst haben. Typ potentieller Geiselnehmer, wie sie mit Abscheu bemerkt. Kaum möglich, seinen durchdringenden Blicken zu entgehen, die er aus türnaher Position in ihre Richtung sendet. Blicke, wie sie auch Hermann von Zeit zu Zeit an den Tag legt. Üblicherweise in den frühen Abendstunden eines Wochenendtages.
„Liebes, kommst Du bitte?“, sagt er dann und schlägt die Bettdecke auf, unter der er sich bereits in einem erregten Zustand befindet. Was dann folgt, ist ein mechanisches Lustspiel von kurzer Dauer, dem sich unmittelbar danach lärmende Schlafgeräusche aus seinem halb geöffnetem Mund anschließen. Immer häufiger ertappt sich Anna inzwischen dabei, wie sie sich vorstellt, eines der gestärkten Kopfkissen auf diese Geräuschquelle zu drücken. So lange, bis kein Laut mehr zu hören ist.

Schlagartig wird sie aus den Gedanken gerissen, als eine schnarrende Stimme blechern den kommenden Haltepunkt verkündet:
„Nächste Station Hoffnungsring. Für die Anschlüsse Richtung äußerer Zirkel
bitte umsteigen.“
Sie späht durch die Scheibe, hinter der das Dunkel mit einem Mal Helligkeit weicht, als der Zug in die Station einfährt und deutlich an Fahrt verliert, bis er mit einem Ruck zum Stehen kommt. Menschen greifen nach Taschen, Hüten, Zeitschriften und befördern sich mehr oder weniger schwungvoll in die Höhe. Auch der ältere Herr neben ihr erhebt sich. Freundlich nickt er Anna zu.
„Wünsche noch eine gute Reise. Mögen sie ihr Ziel wohlbehalten erreichen.“
Sie lächelt.
„Danke, das werde ich.“
Dann passiert er sie und steuert den Ausgang an. Mit einem Zischen schwingen die Pforten der stählernen Transporthülle auf und entleeren menschlichen Inhalt auf die steinerne Plattform der Station. Neue Zielsuchende strömen hinein.
Zu ihrer Erleichterung bemerkt sie, dass auch der finstere Fahrgast mit dem hungernden Blick den Zug verlässt. Nicht, ohne sie vorher noch einer visuellen Ferninspektion unterzogen zu haben.

„Verzeihung, ist hier frei?“
Anna zuckt zusammen, als sie eine Berührung an der Schulter verspürt, den
Kopf hebt und in das Gesicht eines Mannes schaut, der sich als Inhaber eines
Paar blauer Augen entpuppt, die ziemlich neugierig unterhalb eines blonden
Schopfes ihren Blick suchen.
„Äh…ja, aber sicher.“
Sie kann spüren, wie die Überraschung verlegene Röte in ihr Gesicht strömen
lässt und blickt zu Boden, während der Fahrgast Position auf dem gegenüberliegenden Platz bezieht.
„Ich wollte ihnen keinen Raum streitig machen, da es wirkte, als wollten sie
die Tüte auf dem Sitz platzieren“, bemerkt der Mann.
„Oh, nein. Hatte sie nur auf den Knien, damit der Inhalt nicht verknittert.“
Lächelnd mustert er sie.
„Wertvolle Textilienfracht, wie ich der Verpackung entnehme.“
„Nur einige Hemden“, entgegnet Anna in scheinbarer Gleichgültigkeit.
„Nun, für manche einfach nur Hemden, für andere Ausdruck ihrer Persönlichkeit.“
„Na, so weit würde ich nicht gehen“, entgegnet sie lachend, „ist nur etwas Stoff.“
„Sie sagen es“, antwortet der Mann grinsend.
Dann wendet er den Blick ab und lässt ihn durch den fahrenden Raum wandern. Anna beobachtet ihn dabei und registriert seine wachen Augen, die neugierig von Mitreisenden zu Mitreisenden wandern. Dabei verziehen sich hin und wieder seine Lippen zu einem Lächeln und entblößen Reihen makelloser Zähne. Fasziniert von dieser kindlich anmutenden Neugier vermag Anna kaum den Blick von diesem Mann zu lösen. Zudem, so muss sie sich eingestehen, übt er mit seiner Erscheinung eine magnetisierende Wirkung auf ihre Wahrnehmungsorgane aus. Nicht übermäßig groß und breitschultrig, wie es das klassische Bild eines knieerweichenden Mannes wäre, aber mit einer Ausstrahlung von positiver Offenheit versehen, die sie in den Bann schlägt.
Mit einem Mal greift ihr Gegenüber in die Tasche seiner Jacke und zieht einen Bogen Papier heraus. Er legt ihn auf die Oberschenkel und beginnt diesen zu falten. Vorsichtig gefühlvoll und mit großem Geschick bewegen sich dabei seine Finger.
Anna beobachtet ihn fasziniert und beginnt sich zu fragen, welchem Zweck diese Tätigkeit dienen könnte. Immer weiter faltet der Mann das Papier, wendet es und entfaltet an anderer Stelle wieder. Sein Blick konzentriert und die Hände gekonnt in Dialog mit dem Material.

Minuten vergehen und Anna ist so vertieft in die Beobachtung der handwerklichen Einlage des Mannes, dass sie ihrer Umgebung keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken vermag. Er vollführt noch einige Kunstgriffe, legt dann das Endprodukt auf eine seiner Handflächen, hebt den Kopf und lächelt sie an.
„Das ist für Sie.“
Anna zuckt zusammen, da sie sie sich wie aus einem Trancezustand gerissen fühlt und benötigt einen Moment, um das Objekt auf seiner Handfläche zu realisieren.
„Oh…danke.“
Nicht detailgetreu, was dem Material geschuldet sein mag, aber unzweifelhaft zu erkennen ist die Gestalt einer Katze. Kopf, Körper, Beine und Schwanz zu einer Papierskulptur gefaltet.
Sie nimmt das Werk zwischen ihre Finger und lächelt verlegen.
„Das ist toll. So etwas habe ich noch nie gesehen. Wie kommen Sie dazu?“
„Ist nur so ein kleiner Zeitvertreib. Versuche, Ideen eine Form zu geben.“
Im selben Moment reicht er ihr eine Hand, die sie einem Reflex folgend, ergreift.
„Jan – mein Name, und Deiner?“
Zu ihrer eigenen Verblüffung antwortet sie spontan:
„Anna.“
„Hallo Anna - wusstest Du, dass Katzen besondere Wesen sind? Sie sind nämlich in beiden Welten zu Hause – in dieser hier und dem Schattenreich. Wir Menschen können das nicht und daher fehlt uns oftmals der umfassende Blick für die Dinge.“
„Oh, das wusste ich nicht“, bemerkt Anna nachdenklich, „das erklärt auch, warum sie nicht wirklich zu zähmen sind.“
„Niemand sollte das sein, Anna“, entgegnet Jan und mustert sie aufmerksam aus seinen blauen Augen, in denen sie eine Tiefe zu entdecken glaubt, dass ihre Gedanken zu Sturzbäche in diese werden.
Mühsam reißt sie sich aus der Versenkung, hebt den Blick und realisiert, dass sich der Wagen inzwischen weitestgehend geleert hat. Nur noch wenige Menschen halten die Bänke besetzt. Einzelne Reisende, die in das vorbeihuschende Halbdunkel starren. Wieder lauscht sie dem rhythmischen Rattern der Räder und wieder verlangsamt sich der Takt, als der Zug die nächste Station anfährt.
Blechern hallt die Stimme aus den Lautsprechern von der Decke:
„Endstation Sehnsucht. Der Zug stoppt hier. Bitte aussteigen. Für die Anschlüsse Richtung innerer Zirkel bitte umsteigen.“

„Lass uns gehen“, sagt Jan und greift nach Annas Hand. Sie fasst die seine und lächelnd verlassen sie den Wagen. Keiner von beiden wirft einen Blick zurück, als sie die Rolltreppen betreten und sich aus dem Halbdunkel der unterhöhlten Stadt tragen lassen. An der Oberfläche strahlt die Sonne vor einem nahezu wolkenfreien Himmel. Und wahrend beide die wärmenden Strahlen auf den Gesichtern genießen, durchschreitet einige Meter unter ihren Füßen gerade ein Bahnführer die Wagen seines Zuges - vorbei an leeren Sitzreihen. Kopfschüttelnd sammelt er all die Gegenstände auf, die liegengelassen wurden. Neben achtlos weggeworfenem Verpackungsmaterial und Werbebroschüren großer Elektrofachmärkte befindet sich diesmal auch eine Tüte. Eine Tüte, auf der in großen weißen Lettern ein Slogan prangt:
„Schmutzige Wäsche – unser Geschäft!“

Samstag, 22. Oktober 2011

Trisexualität

Johanna trägt ein knallrotes Shirt mit weißer Aufschrift - "Open your mind".
Passt zu ihrem rabenschwarzen Haar und den dunklen Augen. Spannender Kontrast.
Sie setzt das Glas an und schüttet sich den Drink in die Kehle. Ein Gemisch aus Cola und Jim Beam. Keine Ahnung, wie viele von den Dingern schon den Weg in ihre Figur gefunden haben, aber mir wären inzwischen sämtliche Dichtungen abgesprungen.
Johanna grinst nur und schüttelt sich kurz.
"Bist ja ein brauchbares Stück Kerl. Meinst Du, es könnte passen?"
Ich zucke mit den Schultern und versuche ihrem unruhigen Blick zu folgen. Irgendwie gehetzt. Wandert ständig zwischen Theke und Kellner hin und her.

"Na ja, immerhin schreiben wir uns schon eine ganze Weile und dann die unzähligen Telefonate. Hatte den Eindruck, dass wir gegenseitige Zeitverwertungsrechte erheben könnten."
Ihre Augen verlieren an Fahrt und bleiben an meinen haften.
"Aber die entscheidenden Fragen haben wir noch nicht geklärt", entgegnet sie und setzt eine Miene auf, die Vertragsverhandlungen anzukündigen scheinen.
"Welche Fragen wären das?"
"Sex und so."
"Was ist damit?
Johanna beugt sich herüber und ihre Stimme senkt sich verschwörerisch.
"Wie ist denn Deine Ausrichtung?"
Ich vermute, dass die Frage nicht auf meine politische Gesinnung abzielt.
"Hetero...oder was meinst Du?"
Johanna lässt verächtlich Luft durch aufgeblasene Backen entweichen.
"Puh...wie öde. Wahrscheinlich kaufst Du sonntags auch noch Brötchen zum Frühstück..."
"Äh...ich mag frische Brötchen..."
Ihr Blick hat zerstörenden Charakter.
"Bin trisexuell."
"Hä?"
"Maaan", entfährt es ihr, "t-r-i-s-e-x-u-e-l-l."

Mir scheint, als würde die Achse der Unwissenheit mitten durch unseren Tisch verlaufen.
"Wie meinst Du das?"
"Könnte glatt meinen, Du bist geistig ein wenig minderbelüftet", spottet Johanna.
Offensichtlich hat sie meinen hilflosen Gesichtsausdruck bemerkt.
"Soll heißen, Männer, Frauen und mich. Trisexuell eben."
"Aha...da wird es aber eng im Schlafzimmer...."

Johanna schiebt den Stuhl zurück.
"Das wird dann wohl nichts mit uns", sagt sie und steht auf.
Eine kurze Verabschiedung, dann bewegt sich ihre Silhouette zum Ausgang.
Ich mag mich täuschen, aber mir scheint, als hätte sie dabei die Hand in ihrem Schritt.
Egal.
Am Sonntag gibt es Brötchen.
Frisch aus der Maschine. Warm und verboten lecker duftend.

© by P.H.

Freitag, 21. Oktober 2011

Jäger lichtscheuer Existenzen


Ein mieser Tag. Ein bemerkenswert mieser Tag. Zuerst hatte Carmen verschlafen und war viel zu spät im Büro erschienen. Klar, dass der Boss die Gelegenheit nutzte, um ihr wieder mal eine gepflegte Standpauke zu verabreichen. Die übliche Leier. Thematisch irgendwo zwischen Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit oszillierend. Den exakten Inhalt hätte Carmen gar nicht mehr wiedergeben können. Sie hatte sich längst angewöhnt, seiner verbalen Materialschlacht mit ambossartiger Gelassenheit und einem heruntergefahrenen Aufnahmesystem zu begegnen.
Dann hatte Mutter angerufen und von ihrer Arthrose erzählt. Gefühlte Spielfilmlänge. Mindestens „Ben Hur“ und mit diesem vorwurfsvoll jammernden Unterton. Als würde ihr Dasein nur dem Zweck dienen, alles Leid dieser Welt in sich zu bündeln. Während die Worte durch die Freisprecheinrichtung tropften und Carmen hin und wieder ein „Oh“ oder ein „Ach“ einwarf, hatte sie die Gelegenheit genutzt und ihre Fingernägel auf Blickfangniveau lackiert. Feuerrot. In gar nicht unbeabsichtigter Signalwirkung für das anstehende Date. Unrentable Kleinkunst, denn hätte Carmen gewusst, dass sie am Abend eine halbe Ewigkeit in diesem Club sitzen und erfolglos auf Arnd warten würde, hätte sie sich die künstlerischen Aktivitäten an ihren Fingerenden erspart. Eigentlich waren sie verabredet gewesen, aber Hoheit hatte es vorgezogen, nicht zu erscheinen. Einfach so. Ohne Absage und ihre Anrufe auf seinem Handy blieben unbeantwortet.

Irgendwann, zwei Cocktails später, hatte sie ziemlich missmutig den Laden verlassen und war zu ihrem Auto gegangen. Nicht, dass ihr der Tag schon genug an Frustsouvenirs eingebracht hatte, zu allem Überfluss gab es dann auch noch ein Problem mit dem Wagen. Heute blieb ihr nichts erspart. Nicht mal dieses Telefonat mit dem Polizeinotruf:
„Hallo?“
„Ja, was kann ich für sie tun?“
„Meine Handtasche liegt im Kofferraum und ich komme nicht heran!“
Der Typ am anderen Ende der Leitung wirkte etwas gereizt:
„Gute Frau, sie haben die Polizei gerufen. Was sollen wir da, ihrer Meinung nach, unternehmen? Ist sie denn gestohlen worden?“
„Nein, das ist es nicht. Komme da einfach nicht heran…“
„Wollen sie mich auf den Arm nehmen?“
Carmen schnaubte entnervt.
„Hören sie, mein Tag war echt beschissen. Nach Scherzen ist mir mal gar nicht. Alles, was ich will, ist diese dämliche Tasche. Geht aber nicht, weil da so eine blöde Leiche drauf liegt.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte für einen Moment besinnliche Stille, bevor die Stimme erneut ansetzte:
„Ist das ihr Ernst oder wollen sie mich veralbern?“
„Man man, sie sind doch zuständig für biologische Totalausfälle oder nicht? Kein Ahnung, wie das in meinen Wagen gelandet ist. Jedenfalls komme ich gerade aus dem Club, wollte meine Handtasche aus dem Kofferraum holen und da liegt nun dieser Erdmöbelkunde. Ziemlich bleich und vom Lebensspielfeld genommen. Mal abgesehen davon - wissen sie, was so eine Prada-Tasche kostet? Ein Vermögen! Was, wenn die nun hin ist? Wie ich die Versicherung kenne, werden die mir nicht einen Cent erstatten!“
Nach einem weiteren Moment des Schweigens, schien der Typ am anderen Ende die Lage zu erfassen:
„Ok, hoffentlich ist das ist keine Scherz. Fassen sie bitte nichts an. Ich schicke das Team von der Spurensicherung heraus. Wo ist ihr Standort?“
„Der Parkplatz vor dem Club Andromeda.“
„Gut, kennen wir. Bleiben sie an ihrem Wagen. Meine Kollegen sind in einigen Minuten vor Ort.“
Dann legte er auf.
Entnervt schlug Carmen den Kofferraumdeckel des silbernen Alfas zu und lehnte sich wartend gegen den Wagen.

Als würde eine Hummel auf dem Rasierapparat surfen. So etwa klang es in Pauls Ohren, als das Handy auf dem Nachttisch um Aufmerksamkeit summte. Der Vibrationsalarm versetzte das ganze Möbel in Schwingung. Kaum zu überhören, selbst mit einer Schlafdosis weit unter der empfohlenen Mindestmenge.
In einem nur halbherzigen Kampf gegen die Mächte der Müdigkeit schälte sich Paul halbseitig aus der wärmenden Daunendecke hervor und fuhr tastend die Hand aus. Nach einigen Fehlversuchen fanden seine Finger den digitalen Störenfrieden. Bedächtig führte er die Sprachmaschine ohrenwärts und betätigte dabei die Plappertaste.
„Maan…jetzt bin ich aber gespannt…“
„Paul?“, tönte es aus der Leitung, „bist Du wach?“
„Selbstverständlich…welcher Irre käme auf die verwegene Idee, nachts zu schlafen?“
„Anna hier. Sorry, aber es gibt Arbeit - Leiche im Kofferraum eines Alfas. Parkplatz vor dem Andromeda.“

In einem Sinkflug durch den Nebel der Erkenntnis begannen sich Pauls Gedanken zu sortieren. Anna, seine Partnerin im Morddezernat. Eine hübsche Erscheinung mit langen, roten Haaren, grünen Katzenaugen und ziemlich weiblicher Silhouette. Immer voll übersprühender Energie, starrköpfig und phasenweise eine wandelnde Materialprüfung für Nervenstränge.
„Soll bei italienischen Pastaschüsseln des Öfteren vorkommen…“
„Na ja, die Besitzerin des Wagens ist ziemlich uneuphorisch. Fährt üblicherweise keine Leichen durch die Landschaft. Klingt für mich recht glaubwürdig“
Paul dachte kurz nach und kam zu der Erkenntnis, dass Kofferräume nicht das gängige Biotop für Leichen sind. Egal welcher Wagentyp.
„Ok, bin auf dem Weg.“
Er beendete das Gespräch und warf die Sprachmaschine wieder auf dem Nachttisch ab.

Fluchend dirigierte Paul seine Beine aus dem Bett und bezog sitzende Position auf der Bettkante. Träge massierte er seine Schläfen, während der Denkapparat das Programm zur örtlichen und zeitlichen Orientierung startete.
Durch die heruntergelassenen Jalousien im Schlafzimmer drang lediglich das Licht der Straßenlaterne und der Blick auf den Radiowecker ließ ihn stöhnend den Kopf schütteln. 1:23 Uhr – eine Zeit, in der sich lediglich Gesetzeshüter auf der Straße herumtrieben und solche, die denen aus dem Wege zu gehen versuchten.

Er stemmte sich in die Höhe und verharrte einen Moment in dem Stadium horizontalen Standes, bevor er tastend aus dem Zimmer wankte, den Flur passierte und den Lichtschalter vor dem Badezimmer betätigte
Die plötzliche Helligkeit ließ ihn blinzeln und nur bruchstückhaft ein mit Schlaf unterversorgtes Gesicht im Spiegel erkennen. Die kurzen, dunkelblonden und vereinzelt ergrauenden Haare standen wirr auf dem Kopf und dunkle Ringansätze zierten die untere Augenpartie. Für die Endrunde des „Sexiest Man Alive“ hätte es vermutlich nicht gereicht. Musste es auch nicht. Paul war Ganovenschreck in Staatsdiensten. Mordkommission. Schon seit 21 Jahren und das durchaus erfolgreich. Aufklärungsquote nahe 100%. Sicherlich nicht nur ein Verdienst des skalpellscharfen Verstandes, dem man ihm nachsagte, sondern auch der Zähigkeit. Anders gesagt: Hatte er sich einmal in einem Fall verbissen, vermochte er kaum abzulassen, bis dieser geklärt war. „Zecke Paul“, flüsterten sie dann hinter seinem Rücken und glaubten, er würde es nicht hören. Paul empfand dies durchaus als Kompliment und registrierte es mit einem heimlichen Grinsen.

Er bezog Platz vor dem Waschbecken, drehte das warme Wasser auf, ließ eine Handvoll Nass mit seinem Gesicht Kontakt aufnehmen und fuhr sich dann durch die Haare. Mit einer Bürste brachte er diese in Form und befand sich, nach einem prüfenden Blick in den Spiegel, für halbwegs gesellschaftstauglich. Die belebende Wirkung der Maßnahmen schien nun auch das Blau seiner Augen einen Hauch wacher erscheinen.
Paul ging zurück in das Schlafzimmer, fischte einige Kleidungsstücke aus dem Schrank und streifte diese über. Die zu erwartenden Temperaturen in dem Sommermonat ließen ihn ein T-Shirt zu der üblichen Jeans hinreichend erscheinen. Mit seinen 42 Jahren machte er in dieser Ausstattung immer noch eine gute Figur. Die regelmäßigen Besuche im Trainingsraum des Polizeireviers hatten zu sichtbaren Resultaten geführt. Auf gut 180 cm Länge tummelten sich nur wenige, erkennbare Kohlehydratspeicher und der muskulöse Oberkörper ließ erahnen, dass der Besitzer einen festen Händedruck zu erwidern wusste.

Paul prüfte den Sitz seiner Dienstwaffe am Gürtel, angelte die Schlüssel vom Haken, löschte alle Lichter, öffnete die Tür, trat hinaus und zog sie hinter sich zu.
Die Luft war klar und frisch. Dennoch war es warm. Ein wenig, als hätte jemand die Tür des Tagesbackofens geöffnet gelassen und die Restwärme würde sich nun mit der Nachtluft mischen. Bei dem Gedanken musste er grinsen. Kurz hielt er inne und sog die Luft in sich auf. Die Stille ließ ihn dabei nichts als das Geräusch seiner Atemzüge hören. Eine irritierende Stille. Kein Straßenlärm, keine vorbeihuschenden Menschen, nicht einmal der Klang musizierender Federtiere war zu vernehmen. Als hätte jemand die Mute-Taste gedrückt. In diesem Moment wurde Paul von einem kalten Lufthauch im Nacken gestreift und für einen Augenblick schien die Straßenlaterne vor dem Haus zu flackern. Er schüttelte sich und schob die irritierende Wahrnehmung beiseite.
„Kein Wunder, wenn man unterkoffeiniert und im Schlafdefizit aus dem Haus stürzt“, schoss es ihm durch den Kopf.

Paul lenkte seine Schritte zum Auto. Der alte Diplomat war in unmittelbarer Nähe geparkt. Sicher kein zeitgemäßer Untersatz mehr, aber bisher hatte er sich von dem Wagen nicht trennen können. Das Ding war unhandlich, schluckte Sprit wie ein Passagierflugzeug und verschlang ein Vermögen für die Wartung. Andererseits liebte er den Sound des Achtenders unter der Motorhaube und jenes sanfte Schaukeln der Karosserie, wenn man über die Landstraßen glitt. Außerdem hatte er Charakter. Etwas, das ihm bei den Einheitsgefährten neuerer Produktion zu fehlen schien.

Paul entriegelte die Wagentür und ließ sich auf den Fahrersitz gleiten. Mit basslastigem Blubbern startete die Maschine. Er lenkte aus der Parklücke, fischte eine Zigarette aus der Packung, die er sicherheitshalber immer auf der Ablage bereit hielt und zündete diese an. Gierig sog er den Rauch ein und genoss die belebende Wirkung. Ein Laster, das er sich bisher noch nicht abgewöhnt hatte. Er hasste Abhängigkeiten und wusste um die biologiefeindlichen Auswirkungen des Tabaks, hatte aber trotzdem noch nicht genug Willensstärke aufbringen können, dem blauen Dunst zu entsagen. „Irgendwann“, sagte er sich stets und wusste, dass das handelsübliche Motto aller Süchtigen war.

Beherzt drehte er an dem Lautstärkeregler des Soundsystems. Wummernde Beats mischten sich nun mit dem kraftvollen Klang der großvolumigen Maschine. „Wir sind die Nacht“, ließ eine Frauenstimmer hören, gefolgt von pulsierendem Klängen. Selten schien ihm der Track von Covenant passender als in diesem Moment und während er seinen Oberkörper zu dem Rhythmus mitschwingen ließ, fühlte er die Lebensgeister an die Türen seiner Denkstube rütteln. Tatsächlich begann allmählich so etwas wie ein Wohlgefühl in der Bauchregion Platz einzunehmen.
„Irgendwie ziemlich cool“, fuhr es ihm durch die Gedanken.
Ein Kerl mit seinem Wagen über leere Straßen gleitend, Glimmstengel im Lippeneck und wummernden Beats aus der Klangbox. Hatte etwas von einem dieser amerikanischen Serienhelden. Nur fuhr er hier nicht über breite Boulevards, die nachts von bunter Leuchtreklame erleuchtet wurden. Hier war alles um einige Kragenweiten kleiner. Keine Häuserschluchten, die Straße einspurig und lediglich von dem trüben Schein der Straßenlaternen erhellt, die in regelmäßigen Abständen an ihm vorbei huschten. Paul liebte die nächtliche Vorstadtatmosphäre und hätte sie für keinen Preis der Welt gegen eine dieser schrillen Metropolenkulissen getauscht. Nicht einmal für ein lebenslanges Gratis-Zigarettenabonnement.

Er hatte nicht weit zu fahren. Der Club befand sich nur wenige Kilometer entfernt in einem benachbarten Vorort. Paul hoffte, auf dem Weg eine Möglichkeit zu finden, Essbares zu erstehen. Sein Magen machte sich inzwischen mit anhaltendem Knurren bemerkbar und verlangte nach nährendem Inhalt.
Wenige Minuten später passierte er eine Kreuzung und erspähte die Lichter einer Tankstelle, die weithin sichtbar, auf ihre durchgehenden Öffnungszeiten hinwies. Paul verlangsamte das Tempo und bog auf den Parkplatz ein. Er brachte den Wagen zum Stehen, schaltete den Motor aus und schälte sich aus dem Sitz.

Im hell erleuchteten Verkaufsraum herrschte nächtliche Gelassenheit. Eine sichtlich gelangweilte Angestellte drückte sich hinter der Theke herum. Mit einem kurzen Seitenblick nur hatte sie ihn registriert, bevor sie wieder auf den Bildschirm starrte, der mitten im Verkaufraum unterhalb der Decke montiert war und zappelnde Bilder eines Musiksenders ausstrahlte. Dazu kaute sie hektisch an einem Kaugummi und wippte ihren Kopf zu der Musik, die aus den Lautsprechern des Apparates drang.
Paul steuerte die verglaste Auslage am Rande der Theke an, in dem er einige Esswaren erspäht hatte. Bei näherer Betrachtung entpuppten sich diese als Backwaren, die aufgrund der Oberflächenbeschaffenheit ihre Ofenfrische weit hinter sich gelassen haben schienen. Paul war das unter den gegebenen Umständen ziemlich gleich.

„Jaaa…?“, tönte die Lady auf der anderen Seite ziemlich desinteressiert, während sie in seine Richtung schlurfte.
Ihr dunkles Haar trug sie in einem kunstvollen Konstrukt zu einem turmähnlichen Gebilde auf dem Kopf. Eine beachtliche Schicht Schminke vermochte nur ansatzweise die Problemhaut zu verbergen, von der das reichhaltig verteilte Schwarz des Lidschattens zudem wohl ablenken sollte. Paul schätzte sie nicht wesentlich älter als 20 Jahre.
„Wir sind die Nacht“, huschte es ihm durch die Gedanken.
„Bin auf Nahrungssuche“, knurrte er ihr entgegen.
„Die Polizei in kulinarischer Mission“, entgegnete sie mit einem spöttischen Gesichtsausdruck, nachdem ihr Blick das Halfter an seinem Gürtel gestreift hatte.
„Was darf ich denn der Staatsgewalt anbieten?“
„Etwas, das ohne Folgeschäden verdaubar ist“, antwortete Paul.
Sie warf einen Blick auf die karge Auslage.
„Schokocroissant. Geht zum halben Preis über den Tisch, weil von gestern. Ist aber ok. Habe mir vorhin selber eines gegönnt.“
Er fixierte sie kurz, als wollte er sich der Verträglichkeit des Produktes an ihrer Erscheinung vergewissern und nickte schließlich.
„Na dann. Ich nehme eines der Biester.“
Sie packte das Croissant ein und schlurfte zur Kasse. Paul folgte ihr und legte einige Münzen auf die Theke. Sie zählte das Wechselgeld und ließ es in seine ausgestreckte Hand fallen. Kalt berührten ihn ihre Finger dabei. Als er sie ansah war ihr Blick wieder auf den Bildschirm gerichtet und der Kiefer verarbeitete mahlend den Kaugummi.
„Schönen Tag noch, Herr Polizist“, rief sie ihm beim Hinausgehen hinterher.
„Glaube ich nicht“, brummte Paul und steuerte den Diplomat an.

Er warf die Tüte mit dem Backartikel auf den Beifahrersitz, startete den Wagen und fädelte wieder auf der Straße ein.
Einige Kreuzungen und Seitenstraßen später hatte er den Tatort erreicht.

Vor dem Gebäude des Andromedas hatte sich bereits eine Handvoll Fahrzeuge eingefunden, die ihm durchaus vertraut schienen. Er erkannte Annas Cabrio sowie Dienstfahrzeuge der Streife und den Kombi der Spurensicherung. Großzügig war ein Absperrband um den Ort des Geschehens gespannt worden, hinter dem sich einige, wenige Schaulustige eingefunden hatten und das Treiben neugierig verfolgten. Zum größten Teil Besucher des Clubs, die das Nachtprogramm außerhalb der Mauern offensichtlich für unterhaltsamer befunden hatten und nun, in kleinen Gruppen versammelt, die Ereignisse beobachteten.

Paul brachte seinen Diplomat in eine der Parklücken zum Stehen, schnappte sich die Tüte von der Tankstelle und schwang aus dem Wagen.
Anna, die ihn hatte vorfahren sehen, kam ihm sogleich entgegen. Ein Grinsen umspielte ihre vollen Lippen und entblößte makellose Zahnreihen.
„Na, hat es dich auch hierher verschlagen? Keine bessere Beschäftigung gefunden?“
„War gerade mit Angelina Jolie im heißen Sand einer abgelegenen Karibikinsel zugange, als mich der digitale Traumtöter zu terrorisieren begann.“
„Tut mir aufrichtig leid um deinen feuchten Traum. Hier erwartet dich leider weniger warmes Fleisch“, bemerkte Anna spöttisch.
Sie bedeutete ihm zu folgen und lenkte ihre Schritte zu dem Tatort. Paul stiefelte neben ihr her, während er das Croissant aus der Tüte befreite und seine Zähne in der kautschukartigen Backware vergrub. Nicht sein Leibgericht, aber immerhin würde das luftige Gebilde seine Magenwände auskleiden und den Blutzuckerspiegel deutlich über Normalnull steigen lassen.
Während beide über das Absperrband stiegen lauschte er Annas Worten:
„Carmen Terhagen. Kam gegen 1.00 Uhr aus dem Club und wollte ihre Tasche aus dem Kofferraum holen, als sie dort den Verblichenen fand. Die Lady ist Buchhalterin und ein völlig unbeschriebenes Blatt. Weiß nicht, wie ihr geschehen ist. Hat es mehr mit der Modewelt als mit der Unterwelt. Wirkt auf mich glaubwürdig.“
„Und weiß man schon, wer der leblose Kollege im Gepäckabteil sein könnte?“
Sie hatten den Wagen erreicht und blieben vor der geöffneten Klappe des Alfas stehen, während er sich die Reste seiner Mahlzeit einverleibte.

Im Inneren befand sich der leblose Körper eines Mannes. Offensichtlich nicht sehr groß gewachsen und embryonalartig zusammengerollt. Das Haar dunkel und zu einer Bürste geschnitten. Bekleidet war er mit schwarzer Jeans und ebenso farbigem Hemd. Irgendwo zwischen 40 und 50 schätzte Paul sein Alter ein. Auf den ersten Blick waren für ihn keine sichtbaren Spuren eines Kampfes oder sonstiger Gewalteinwirkung zu erkennen. Fast schien es, als hätte der Typ seine Fahrkarte in die ewigen Jagdgründe mit einem Lächeln gezogen.
„Frag mal Thomas, der weiß sicher mehr“, meinte Anna.

Thomas war Beamte der Spurensicherung. Hatte nur noch wenige Jahre bis zur Pensionierung. Ein gelassener und ziemlich ausgefuchster Kollege. Fand stets irgendwelche Nanospuren an Tatorten, die er dann zu juristisch beschusssicheren Beweisen klöppeln konnte. Paul schätzte seine Uhrwerkspräzision und die Erfahrungsmassen, die sich im Laufe von Jahrzehnten bei ihm angestaut hatten. Er war sich sicher, dass wenn er eines Tages Opfer eines heimtückischen Anschlages werden sollte, nirgendwo so fachgerecht seine sterblichen Überreste auf Spuren provozierten Ablebens untersucht werden würden, als in den Händen von Thomas.
.
Paul erspähte ihn etwas abseits des Wagens. Auf dem Boden kauernd und wie er gerade damit beschäftigt war, allerlei Utensilien in einen Koffer zu verstauen.
„Hey, Kollege, schon auf dem Rückzug?“
Thomas drehte sich herum, sah die Gruppe um den Tisch stehen, stand auf und kam zu ihnen herüber.
„Kannst du uns schon mit Details aufheitern?“, wollte Paul wissen.
Thomas nickte nachdenklich.
„Hi erstmal. Na ja, scheint erschossen worden zu sein. Zumindest fanden wir zwei Durchtrittspforten im Bereich des Oberkörpers. Vorne rein und hinten raus - oder umgekehrt. Merkwürdige Geschichte. Ziemlich sauber, geradezu chirurgisch. Keine Projektile und kein Blut zu finden. Weiteres, wenn wir ihn dann auf dem Tisch in der Gerichtsmedizin haben.“
Anna schob sich an Pauls Seite.
„Erkenntnisse zur Person?“
„Hatte keine Papiere dabei, aber ich glaube, ich kenne den Typen.“
„Echt?“, ließ sie erstaunt hören.
„Wenn mich ich nicht irre, dann gehört ihm ein Friseursalon in der Stadt - „Edwins Haarstube“. Glaube, dass ich da mal gastiert habe. Werden das mal checken.“
Paul gab ein schnaubendes Geräusch von sich.
„Na ja, das engt den Kreis möglicher Verdächtige auf unzufriedene Kunden ein. Leute, die statt Haarpracht eine gesprengte Ratte nach der Behandlung auf dem Kopf fanden. “
„Hm…wenn es der ist, den ich meine, dann gäbe es noch einen anderen Aspekt. Der Bursche war ein seltsamer Vogel. Ziemlich esoterisch. Hatte allerlei komisches Zeug in dem Laden. Kristallkugeln und so.“
„Rotes Telefon nach oben“, meinte Paul grinsend.
„Hey, etwas mehr Respekt vor den höheren Mächten bitte“, entgegnete Thomas in gespielter Entrüstung und wendete sich ab, um weiter sein Arbeitsgerät zu verstauen.

Paul drehte sich herum und erspähte Carmen in einiger Entfernung, wie sie mit gelangweilter Miene auf einem Handy tippte.
„Ist das die Leichenchaffeuse?“, wendete er sich fragend Anna zu.
Sie bejahte und mit einer Handbewegung bedeutete ihr zu folgen.
Carmen hörte die beiden herankommen und verstaute das Telefon in die Tasche ihrer Hose.
„Kommissar Paul Leuschen. Meine Kollegin kennen sie bereits. Wir werden den Fall gemeinsam bearbeiten.“
Sie richtete ihre Augen auf ihn und nahm die angebotene Hand mit einem schlaffen Druck entgegen.
„Carmen Terhagen. Ein Theater ist das hier“, warf sie ihm sichtlich gereizt entgegen, „was passiert denn nun mit dem Holzkittelträger und vor allem, wann kann ich meine Tasche wiederhaben?“
„Die Jungs von der Gerichtsmedizin werden sich der Sache annehmen. Treffen gleich ein und kümmern sich um den Abtransport. Ich danke schon mal für ihre Geduld.“
Er kramte in der Hosentasche und beförderte eine zerknitterte Visitenkarte an das Neonlicht.
„Rufen Sie uns an, wenn ihnen noch etwas einfallen sollte, das von Bedeutung sein könnte. Unabhängig davon werden wir sie in den nächsten Tagen sicher noch mal kontaktieren.“
Carmen nahm die Karte entgegen und warf einen gelangweilten Blick darauf.
„Ok, von mir aus…“, entgegnete sie mit einem entnervten Unterton.
Paul nickte ihr freundlich zu und zog Anna beiseite.
„Lass uns gehen und noch eine Kappe Schlaf nehmen. Wir treffen uns dann später auf dem Revier und entwerfen coole Pläne für das weitere Vorgehen“, sagte Paul.
„Klingt brauchbar“, antwortete sie und hielt sich gähnend eine Hand vor dem Mund, „dann mal beste Grüße an Angelina und sie soll mir ihren Mann schicken.“
Anna zwinkerte ihm verschwörerisch zu, bevor sie sich abwendete und ihren Wagen ansteuerte.
„Bin momentan leider unabkömmlich“, warf er ihr noch hinterher.
Sie lachte laut als sie in ihr Cabrio stieg.

Paul ließ sich auf den Fahrersitz des Diplomats gleiten, startete die Maschine, rangierte aus der Parklücke und rollte auf die Straße. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck starrte er durch die Scheibe. Die Lichter des Wagens durchschnitten die Nacht und Häuser huschten vorbei. Ihm fröstelte bei dem Gedanken an das Gesehene. Wohl aber nicht nur deswegen. Ein kalter Hauch schien durch das Wageninnere zu strömen und Paul spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Instinktiv tastete er zu der Waffe an seinem Gürtel.
„Das brauchen sie nicht“, tönte es mit einem Male in seinem Rücken.
Er zuckte zusammen. Der Wagen schlingerte kurz.
„Fahren sie bitte weiter.“
Paul sah in den Rückspiegel und blickte in das Gesicht eines Aliens. Zwar war dieses seine erste Begegnung mit einem, aber er benötigte keine Google-Recherche um sich seiner Sache sicher zu sein. Das gelbe Augenpaar, das ihn freundlich durch den Spiegel ansah, sprach für sich. Ein auffällig großes Augenpaar, welches große Teile des schmalen Gesichtes blassblauer Färbung einnahm. Dazu ein kleiner, dünnlippiger Mund, der sich zu einem angedeuteten Lächeln verzogen zu haben schien.
Er hatte nichts gegen Aliens. Grundsätzlich nicht. Wenn es ihm auch unter diesen Umständen ungelegen schien. Mitten in der Nacht, auf der Rückbank seines Wagens und unter dem Eindruck des Besuches eines eher ungewöhnlichen Tatortes.
„Wer zur Hölle sind sie und was machen sie in meinem Wagen?“
Die fremde Erscheinung drehte den Kopf und sah durch die Scheibe. Die vorbeiziehenden Straßenlaternen warfen glitzernden Schimmer auf das glatte, schwarze Haar des Wesens, das straff über den Kopf zurückgelegt war und kleine Ohren umrahmte, die nahezu vollständig in den Kopf eingelassen schienen.
„Ka-Hal, wobei mein Name in ihrer Sprache nur unzureichend dargestellt ist.“
Das Wesen hatte wieder den Kopf gewendet und schaute ihn durch den Spiegel an. Lidähnliche Häute fuhren in schneller Abfolge über die Augen und es wirkte, als würde es ihm zublinzeln.
„Ok, Ka-Hal, was zum Henker machen sie in meinem Wagen? Was wollen sie von mir?“
„Nun, wir sind so etwas wie Kollegen. In meiner Heimat gehe ich einer vergleichbaren Tätigkeit zu ihrer nach.“
„Unterbezahlter Jäger lichtscheuer Existenzen? Herzlichen Glückwunsch und weiter?“
„Dieser Fall ist ziemlich brisant.“
„Welcher Fall?“, entgegnet Paul.
„Die Leiche, die sie soeben gefunden haben.“
„Was wissen sie darüber und was haben sie damit zu tun?“
„Edwin war eine wichtige Person für uns. So etwas wie ein Mittelsmann. Hat Kontakte koordiniert.“
Paul entfuhr ein heiseres Lachen. Er trat auf die Bremse, lenkte den Wagen an den Straßenrand, schaltete ihn aus und wendete sich dem Besucher zu.
„Hören sie, wer auch immer sie sein mögen. Ich bin müde und genervt. Sie haben sich auf den Rücksitz geschlichen und erzählen mir hier eine wirre Geschichte von anderen Welten. Dafür habe ich jetzt echt keine Geduldskapazitäten. Steigen sie einfach nur aus und wir gehen unserer Wege. Sie, wo immer sie hin wollen und ich ins Bett.“
Das Wesen schaute ihn für einen Moment aus großen, gelben Augen an und betätigte dann den Türöffner.
„Gut, ich werde gehen. Ruhen sie sich aus und wir reden später.“
Im Halbdunkel sah Paul eine Handbewegung und wie ein Gegenstand auf den Beifahrersitz fiel. Er warf einen Blick darauf und erkannte ein flaches, rechteckiges Ding, das etwa Spielkartengröße haben mochte. Es schimmerte metallen im Schein der Laternen. Bevor er sich näher mit dem Objekt beschäftigen konnte, hörte er das dumpfe Geräusch der zuschlagenden Autotüre.
Paul hob den Kopf und sah kopfschüttelnd dem Fremden nach, wie dieser gerade ausgestiegen war und sich rasch vom Wagen entfernte. Er startete den Motor und lenkte den Diplomat wieder auf die Straße. Als er erneut in den Rückspiegel sah, war der Fremde verschwunden. Beinahe so, als hätte es ihn nie gegeben.
Paul schüttelte den Kopf und grinste.
„Verrückt“, schoss es ihm durch den Sinn, „eine irre Welt, in der wir leben“.
Das dachte er auch noch später, als sein Kopf auf das Kissen im heimischen Bett sank. Unmittelbar neben dem Nachttisch, auf dem sein Handy lag und ein metallisches Objekt, das seltsam bläulich im Licht der durch die Jalousien eintretenden Strahlen der Straßenbeleuchtung schimmerte.
Paul verfiel in einen unruhigen Schlaf…


Ein mieser Tag. Ein bemerkenswert mieser Tag. Zuerst hatte Carmen verschlafen und war viel zu spät im Büro erschienen. Klar, dass der Boss die Gelegenheit nutzte, um ihr wieder mal eine gepflegte Standpauke zu verabreichen. Die übliche Leier. Thematisch irgendwo zwischen Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit oszillierend. Den exakten Inhalt hätte Carmen gar nicht mehr wiedergeben können. Sie hatte sich längst angewöhnt, seiner verbalen Materialschlacht mit ambossartiger Gelassenheit und einem heruntergefahrenen Aufnahmesystem zu begegnen.
Dann hatte Mutter angerufen und von ihrer Arthrose erzählt. Gefühlte Spielfilmlänge. Mindestens „Ben Hur“ und mit diesem vorwurfsvoll jammernden Unterton. Als würde ihr Dasein nur dem Zweck dienen, alles Leid dieser Welt in sich zu bündeln. Während die Worte durch die Freisprecheinrichtung tropften und Carmen hin und wieder ein „Oh“ oder ein „Ach“ einwarf, hatte sie die Gelegenheit genutzt und ihre Fingernägel auf Blickfangniveau lackiert. Feuerrot. In gar nicht unbeabsichtigter Signalwirkung für das anstehende Date. Unrentable Kleinkunst, denn hätte Carmen gewusst, dass sie am Abend eine halbe Ewigkeit in diesem Club sitzen und erfolglos auf Arnd warten würde, hätte sie sich die künstlerischen Aktivitäten an ihren Fingerenden erspart. Eigentlich waren sie verabredet gewesen, aber Hoheit hatte es vorgezogen, nicht zu erscheinen. Einfach so. Ohne Absage und ihre Anrufe auf seinem Handy blieben unbeantwortet.

Irgendwann, zwei Cocktails später, hatte sie ziemlich missmutig den Laden verlassen und war zu ihrem Auto gegangen. Nicht, dass ihr der Tag schon genug an Frustsouvenirs eingebracht hatte, zu allem Überfluss gab es dann auch noch ein Problem mit dem Wagen. Heute blieb ihr nichts erspart. Nicht mal dieses Telefonat mit dem Polizeinotruf:
„Hallo?“
„Ja, was kann ich für sie tun?“
„Meine Handtasche liegt im Kofferraum und ich komme nicht heran!“
Der Typ am anderen Ende der Leitung wirkte etwas gereizt:
„Gute Frau, sie haben die Polizei gerufen. Was sollen wir da, ihrer Meinung nach, unternehmen? Ist sie denn gestohlen worden?“
„Nein, das ist es nicht. Komme da einfach nicht heran…“
„Wollen sie mich auf den Arm nehmen?“
Carmen schnaubte entnervt.
„Hören sie, mein Tag war echt beschissen. Nach Scherzen ist mir mal gar nicht. Alles, was ich will, ist diese dämliche Tasche. Geht aber nicht, weil da so eine blöde Leiche drauf liegt.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte für einen Moment besinnliche Stille, bevor die Stimme erneut ansetzte:
„Ist das ihr Ernst oder wollen sie mich veralbern?“
„Man man, sie sind doch zuständig für biologische Totalausfälle oder nicht? Kein Ahnung, wie das in meinen Wagen gelandet ist. Jedenfalls komme ich gerade aus dem Club, wollte meine Handtasche aus dem Kofferraum holen und da liegt nun dieser Erdmöbelkunde. Ziemlich bleich und vom Lebensspielfeld genommen. Mal abgesehen davon - wissen sie, was so eine Prada-Tasche kostet? Ein Vermögen! Was, wenn die nun hin ist? Wie ich die Versicherung kenne, werden die mir nicht einen Cent erstatten!“
Nach einem weiteren Moment des Schweigens, schien der Typ am anderen Ende die Lage zu erfassen:
„Ok, hoffentlich ist das ist keine Scherz. Fassen sie bitte nichts an. Ich schicke das Team von der Spurensicherung heraus. Wo ist ihr Standort?“
„Der Parkplatz vor dem Club Andromeda.“
„Gut, kennen wir. Bleiben sie an ihrem Wagen. Meine Kollegen sind in einigen Minuten vor Ort.“
Dann legte er auf.
Entnervt schlug Carmen den Kofferraumdeckel des silbernen Alfas zu und lehnte sich wartend gegen den Wagen.

Als würde eine Hummel auf dem Rasierapparat surfen. So etwa klang es in Pauls Ohren, als das Handy auf dem Nachttisch um Aufmerksamkeit summte. Der Vibrationsalarm versetzte das ganze Möbel in Schwingung. Kaum zu überhören, selbst mit einer Schlafdosis weit unter der empfohlenen Mindestmenge.
In einem nur halbherzigen Kampf gegen die Mächte der Müdigkeit schälte sich Paul halbseitig aus der wärmenden Daunendecke hervor und fuhr tastend die Hand aus. Nach einigen Fehlversuchen fanden seine Finger den digitalen Störenfrieden. Bedächtig führte er die Sprachmaschine ohrenwärts und betätigte dabei die Plappertaste.
„Maan…jetzt bin ich aber gespannt…“
„Paul?“, tönte es aus der Leitung, „bist Du wach?“
„Selbstverständlich…welcher Irre käme auf die verwegene Idee, nachts zu schlafen?“
„Anna hier. Sorry, aber es gibt Arbeit - Leiche im Kofferraum eines Alfas. Parkplatz vor dem Andromeda.“

In einem Sinkflug durch den Nebel der Erkenntnis begannen sich Pauls Gedanken zu sortieren. Anna, seine Partnerin im Morddezernat. Eine hübsche Erscheinung mit langen, roten Haaren, grünen Katzenaugen und ziemlich weiblicher Silhouette. Immer voll übersprühender Energie, starrköpfig und phasenweise eine wandelnde Materialprüfung für Nervenstränge.
„Soll bei italienischen Pastaschüsseln des Öfteren vorkommen…“
„Na ja, die Besitzerin des Wagens ist ziemlich uneuphorisch. Fährt üblicherweise keine Leichen durch die Landschaft. Klingt für mich recht glaubwürdig“
Paul dachte kurz nach und kam zu der Erkenntnis, dass Kofferräume nicht das gängige Biotop für Leichen sind. Egal welcher Wagentyp.
„Ok, bin auf dem Weg.“
Er beendete das Gespräch und warf die Sprachmaschine wieder auf dem Nachttisch ab.

Fluchend dirigierte Paul seine Beine aus dem Bett und bezog sitzende Position auf der Bettkante. Träge massierte er seine Schläfen, während der Denkapparat das Programm zur örtlichen und zeitlichen Orientierung startete.
Durch die heruntergelassenen Jalousien im Schlafzimmer drang lediglich das Licht der Straßenlaterne und der Blick auf den Radiowecker ließ ihn stöhnend den Kopf schütteln. 1:23 Uhr – eine Zeit, in der sich lediglich Gesetzeshüter auf der Straße herumtrieben und solche, die denen aus dem Wege zu gehen versuchten.

Er stemmte sich in die Höhe und verharrte einen Moment in dem Stadium horizontalen Standes, bevor er tastend aus dem Zimmer wankte, den Flur passierte und den Lichtschalter vor dem Badezimmer betätigte
Die plötzliche Helligkeit ließ ihn blinzeln und nur bruchstückhaft ein mit Schlaf unterversorgtes Gesicht im Spiegel erkennen. Die kurzen, dunkelblonden und vereinzelt ergrauenden Haare standen wirr auf dem Kopf und dunkle Ringansätze zierten die untere Augenpartie. Für die Endrunde des „Sexiest Man Alive“ hätte es vermutlich nicht gereicht. Musste es auch nicht. Paul war Ganovenschreck in Staatsdiensten. Mordkommission. Schon seit 21 Jahren und das durchaus erfolgreich. Aufklärungsquote nahe 100%. Sicherlich nicht nur ein Verdienst des skalpellscharfen Verstandes, dem man ihm nachsagte, sondern auch der Zähigkeit. Anders gesagt: Hatte er sich einmal in einem Fall verbissen, vermochte er kaum abzulassen, bis dieser geklärt war. „Zecke Paul“, flüsterten sie dann hinter seinem Rücken und glaubten, er würde es nicht hören. Paul empfand dies durchaus als Kompliment und registrierte es mit einem heimlichen Grinsen.

Er bezog Platz vor dem Waschbecken, drehte das warme Wasser auf, ließ eine Handvoll Nass mit seinem Gesicht Kontakt aufnehmen und fuhr sich dann durch die Haare. Mit einer Bürste brachte er diese in Form und befand sich, nach einem prüfenden Blick in den Spiegel, für halbwegs gesellschaftstauglich. Die belebende Wirkung der Maßnahmen schien nun auch das Blau seiner Augen einen Hauch wacher erscheinen.
Paul ging zurück in das Schlafzimmer, fischte einige Kleidungsstücke aus dem Schrank und streifte diese über. Die zu erwartenden Temperaturen in dem Sommermonat ließen ihn ein T-Shirt zu der üblichen Jeans hinreichend erscheinen. Mit seinen 42 Jahren machte er in dieser Ausstattung immer noch eine gute Figur. Die regelmäßigen Besuche im Trainingsraum des Polizeireviers hatten zu sichtbaren Resultaten geführt. Auf gut 180 cm Länge tummelten sich nur wenige, erkennbare Kohlehydratspeicher und der muskulöse Oberkörper ließ erahnen, dass der Besitzer einen festen Händedruck zu erwidern wusste.

Paul prüfte den Sitz seiner Dienstwaffe am Gürtel, angelte die Schlüssel vom Haken, löschte alle Lichter, öffnete die Tür, trat hinaus und zog sie hinter sich zu.
Die Luft war klar und frisch. Dennoch war es warm. Ein wenig, als hätte jemand die Tür des Tagesbackofens geöffnet gelassen und die Restwärme würde sich nun mit der Nachtluft mischen. Bei dem Gedanken musste er grinsen. Kurz hielt er inne und sog die Luft in sich auf. Die Stille ließ ihn dabei nichts als das Geräusch seiner Atemzüge hören. Eine irritierende Stille. Kein Straßenlärm, keine vorbeihuschenden Menschen, nicht einmal der Klang musizierender Federtiere war zu vernehmen. Als hätte jemand die Mute-Taste gedrückt. In diesem Moment wurde Paul von einem kalten Lufthauch im Nacken gestreift und für einen Augenblick schien die Straßenlaterne vor dem Haus zu flackern. Er schüttelte sich und schob die irritierende Wahrnehmung beiseite.
„Kein Wunder, wenn man unterkoffeiniert und im Schlafdefizit aus dem Haus stürzt“, schoss es ihm durch den Kopf.

Paul lenkte seine Schritte zum Auto. Der alte Diplomat war in unmittelbarer Nähe geparkt. Sicher kein zeitgemäßer Untersatz mehr, aber bisher hatte er sich von dem Wagen nicht trennen können. Das Ding war unhandlich, schluckte Sprit wie ein Passagierflugzeug und verschlang ein Vermögen für die Wartung. Andererseits liebte er den Sound des Achtenders unter der Motorhaube und jenes sanfte Schaukeln der Karosserie, wenn man über die Landstraßen glitt. Außerdem hatte er Charakter. Etwas, das ihm bei den Einheitsgefährten neuerer Produktion zu fehlen schien.

Paul entriegelte die Wagentür und ließ sich auf den Fahrersitz gleiten. Mit basslastigem Blubbern startete die Maschine. Er lenkte aus der Parklücke, fischte eine Zigarette aus der Packung, die er sicherheitshalber immer auf der Ablage bereit hielt und zündete diese an. Gierig sog er den Rauch ein und genoss die belebende Wirkung. Ein Laster, das er sich bisher noch nicht abgewöhnt hatte. Er hasste Abhängigkeiten und wusste um die biologiefeindlichen Auswirkungen des Tabaks, hatte aber trotzdem noch nicht genug Willensstärke aufbringen können, dem blauen Dunst zu entsagen. „Irgendwann“, sagte er sich stets und wusste, dass das handelsübliche Motto aller Süchtigen war.

Beherzt drehte er an dem Lautstärkeregler des Soundsystems. Wummernde Beats mischten sich nun mit dem kraftvollen Klang der großvolumigen Maschine. „Wir sind die Nacht“, ließ eine Frauenstimmer hören, gefolgt von pulsierendem Klängen. Selten schien ihm der Track von Covenant passender als in diesem Moment und während er seinen Oberkörper zu dem Rhythmus mitschwingen ließ, fühlte er die Lebensgeister an die Türen seiner Denkstube rütteln. Tatsächlich begann allmählich so etwas wie ein Wohlgefühl in der Bauchregion Platz einzunehmen.
„Irgendwie ziemlich cool“, fuhr es ihm durch die Gedanken.
Ein Kerl mit seinem Wagen über leere Straßen gleitend, Glimmstengel im Lippeneck und wummernden Beats aus der Klangbox. Hatte etwas von einem dieser amerikanischen Serienhelden. Nur fuhr er hier nicht über breite Boulevards, die nachts von bunter Leuchtreklame erleuchtet wurden. Hier war alles um einige Kragenweiten kleiner. Keine Häuserschluchten, die Straße einspurig und lediglich von dem trüben Schein der Straßenlaternen erhellt, die in regelmäßigen Abständen an ihm vorbei huschten. Paul liebte die nächtliche Vorstadtatmosphäre und hätte sie für keinen Preis der Welt gegen eine dieser schrillen Metropolenkulissen getauscht. Nicht einmal für ein lebenslanges Gratis-Zigarettenabonnement.

Er hatte nicht weit zu fahren. Der Club befand sich nur wenige Kilometer entfernt in einem benachbarten Vorort. Paul hoffte, auf dem Weg eine Möglichkeit zu finden, Essbares zu erstehen. Sein Magen machte sich inzwischen mit anhaltendem Knurren bemerkbar und verlangte nach nährendem Inhalt.
Wenige Minuten später passierte er eine Kreuzung und erspähte die Lichter einer Tankstelle, die weithin sichtbar, auf ihre durchgehenden Öffnungszeiten hinwies. Paul verlangsamte das Tempo und bog auf den Parkplatz ein. Er brachte den Wagen zum Stehen, schaltete den Motor aus und schälte sich aus dem Sitz.

Im hell erleuchteten Verkaufsraum herrschte nächtliche Gelassenheit. Eine sichtlich gelangweilte Angestellte drückte sich hinter der Theke herum. Mit einem kurzen Seitenblick nur hatte sie ihn registriert, bevor sie wieder auf den Bildschirm starrte, der mitten im Verkaufraum unterhalb der Decke montiert war und zappelnde Bilder eines Musiksenders ausstrahlte. Dazu kaute sie hektisch an einem Kaugummi und wippte ihren Kopf zu der Musik, die aus den Lautsprechern des Apparates drang.
Paul steuerte die verglaste Auslage am Rande der Theke an, in dem er einige Esswaren erspäht hatte. Bei näherer Betrachtung entpuppten sich diese als Backwaren, die aufgrund der Oberflächenbeschaffenheit ihre Ofenfrische weit hinter sich gelassen haben schienen. Paul war das unter den gegebenen Umständen ziemlich gleich.

„Jaaa…?“, tönte die Lady auf der anderen Seite ziemlich desinteressiert, während sie in seine Richtung schlurfte.
Ihr dunkles Haar trug sie in einem kunstvollen Konstrukt zu einem turmähnlichen Gebilde auf dem Kopf. Eine beachtliche Schicht Schminke vermochte nur ansatzweise die Problemhaut zu verbergen, von der das reichhaltig verteilte Schwarz des Lidschattens zudem wohl ablenken sollte. Paul schätzte sie nicht wesentlich älter als 20 Jahre.
„Wir sind die Nacht“, huschte es ihm durch die Gedanken.
„Bin auf Nahrungssuche“, knurrte er ihr entgegen.
„Die Polizei in kulinarischer Mission“, entgegnete sie mit einem spöttischen Gesichtsausdruck, nachdem ihr Blick das Halfter an seinem Gürtel gestreift hatte.
„Was darf ich denn der Staatsgewalt anbieten?“
„Etwas, das ohne Folgeschäden verdaubar ist“, antwortete Paul.
Sie warf einen Blick auf die karge Auslage.
„Schokocroissant. Geht zum halben Preis über den Tisch, weil von gestern. Ist aber ok. Habe mir vorhin selber eines gegönnt.“
Er fixierte sie kurz, als wollte er sich der Verträglichkeit des Produktes an ihrer Erscheinung vergewissern und nickte schließlich.
„Na dann. Ich nehme eines der Biester.“
Sie packte das Croissant ein und schlurfte zur Kasse. Paul folgte ihr und legte einige Münzen auf die Theke. Sie zählte das Wechselgeld und ließ es in seine ausgestreckte Hand fallen. Kalt berührten ihn ihre Finger dabei. Als er sie ansah war ihr Blick wieder auf den Bildschirm gerichtet und der Kiefer verarbeitete mahlend den Kaugummi.
„Schönen Tag noch, Herr Polizist“, rief sie ihm beim Hinausgehen hinterher.
„Glaube ich nicht“, brummte Paul und steuerte den Diplomat an.

Er warf die Tüte mit dem Backartikel auf den Beifahrersitz, startete den Wagen und fädelte wieder auf der Straße ein.
Einige Kreuzungen und Seitenstraßen später hatte er den Tatort erreicht.

Vor dem Gebäude des Andromedas hatte sich bereits eine Handvoll Fahrzeuge eingefunden, die ihm durchaus vertraut schienen. Er erkannte Annas Cabrio sowie Dienstfahrzeuge der Streife und den Kombi der Spurensicherung. Großzügig war ein Absperrband um den Ort des Geschehens gespannt worden, hinter dem sich einige, wenige Schaulustige eingefunden hatten und das Treiben neugierig verfolgten. Zum größten Teil Besucher des Clubs, die das Nachtprogramm außerhalb der Mauern offensichtlich für unterhaltsamer befunden hatten und nun, in kleinen Gruppen versammelt, die Ereignisse beobachteten.

Paul brachte seinen Diplomat in eine der Parklücken zum Stehen, schnappte sich die Tüte von der Tankstelle und schwang aus dem Wagen.
Anna, die ihn hatte vorfahren sehen, kam ihm sogleich entgegen. Ein Grinsen umspielte ihre vollen Lippen und entblößte makellose Zahnreihen.
„Na, hat es dich auch hierher verschlagen? Keine bessere Beschäftigung gefunden?“
„War gerade mit Angelina Jolie im heißen Sand einer abgelegenen Karibikinsel zugange, als mich der digitale Traumtöter zu terrorisieren begann.“
„Tut mir aufrichtig leid um deinen feuchten Traum. Hier erwartet dich leider weniger warmes Fleisch“, bemerkte Anna spöttisch.
Sie bedeutete ihm zu folgen und lenkte ihre Schritte zu dem Tatort. Paul stiefelte neben ihr her, während er das Croissant aus der Tüte befreite und seine Zähne in der kautschukartigen Backware vergrub. Nicht sein Leibgericht, aber immerhin würde das luftige Gebilde seine Magenwände auskleiden und den Blutzuckerspiegel deutlich über Normalnull steigen lassen.
Während beide über das Absperrband stiegen lauschte er Annas Worten:
„Carmen Terhagen. Kam gegen 1.00 Uhr aus dem Club und wollte ihre Tasche aus dem Kofferraum holen, als sie dort den Verblichenen fand. Die Lady ist Buchhalterin und ein völlig unbeschriebenes Blatt. Weiß nicht, wie ihr geschehen ist. Hat es mehr mit der Modewelt als mit der Unterwelt. Wirkt auf mich glaubwürdig.“
„Und weiß man schon, wer der leblose Kollege im Gepäckabteil sein könnte?“
Sie hatten den Wagen erreicht und blieben vor der geöffneten Klappe des Alfas stehen, während er sich die Reste seiner Mahlzeit einverleibte.

Im Inneren befand sich der leblose Körper eines Mannes. Offensichtlich nicht sehr groß gewachsen und embryonalartig zusammengerollt. Das Haar dunkel und zu einer Bürste geschnitten. Bekleidet war er mit schwarzer Jeans und ebenso farbigem Hemd. Irgendwo zwischen 40 und 50 schätzte Paul sein Alter ein. Auf den ersten Blick waren für ihn keine sichtbaren Spuren eines Kampfes oder sonstiger Gewalteinwirkung zu erkennen. Fast schien es, als hätte der Typ seine Fahrkarte in die ewigen Jagdgründe mit einem Lächeln gezogen.
„Frag mal Thomas, der weiß sicher mehr“, meinte Anna.

Thomas war Beamte der Spurensicherung. Hatte nur noch wenige Jahre bis zur Pensionierung. Ein gelassener und ziemlich ausgefuchster Kollege. Fand stets irgendwelche Nanospuren an Tatorten, die er dann zu juristisch beschusssicheren Beweisen klöppeln konnte. Paul schätzte seine Uhrwerkspräzision und die Erfahrungsmassen, die sich im Laufe von Jahrzehnten bei ihm angestaut hatten. Er war sich sicher, dass wenn er eines Tages Opfer eines heimtückischen Anschlages werden sollte, nirgendwo so fachgerecht seine sterblichen Überreste auf Spuren provozierten Ablebens untersucht werden würden, als in den Händen von Thomas.
.
Paul erspähte ihn etwas abseits des Wagens. Auf dem Boden kauernd und wie er gerade damit beschäftigt war, allerlei Utensilien in einen Koffer zu verstauen.
„Hey, Kollege, schon auf dem Rückzug?“
Thomas drehte sich herum, sah die Gruppe um den Tisch stehen, stand auf und kam zu ihnen herüber.
„Kannst du uns schon mit Details aufheitern?“, wollte Paul wissen.
Thomas nickte nachdenklich.
„Hi erstmal. Na ja, scheint erschossen worden zu sein. Zumindest fanden wir zwei Durchtrittspforten im Bereich des Oberkörpers. Vorne rein und hinten raus - oder umgekehrt. Merkwürdige Geschichte. Ziemlich sauber, geradezu chirurgisch. Keine Projektile und kein Blut zu finden. Weiteres, wenn wir ihn dann auf dem Tisch in der Gerichtsmedizin haben.“
Anna schob sich an Pauls Seite.
„Erkenntnisse zur Person?“
„Hatte keine Papiere dabei, aber ich glaube, ich kenne den Typen.“
„Echt?“, ließ sie erstaunt hören.
„Wenn mich ich nicht irre, dann gehört ihm ein Friseursalon in der Stadt - „Edwins Haarstube“. Glaube, dass ich da mal gastiert habe. Werden das mal checken.“
Paul gab ein schnaubendes Geräusch von sich.
„Na ja, das engt den Kreis möglicher Verdächtige auf unzufriedene Kunden ein. Leute, die statt Haarpracht eine gesprengte Ratte nach der Behandlung auf dem Kopf fanden. “
„Hm…wenn es der ist, den ich meine, dann gäbe es noch einen anderen Aspekt. Der Bursche war ein seltsamer Vogel. Ziemlich esoterisch. Hatte allerlei komisches Zeug in dem Laden. Kristallkugeln und so.“
„Rotes Telefon nach oben“, meinte Paul grinsend.
„Hey, etwas mehr Respekt vor den höheren Mächten bitte“, entgegnete Thomas in gespielter Entrüstung und wendete sich ab, um weiter sein Arbeitsgerät zu verstauen.

Paul drehte sich herum und erspähte Carmen in einiger Entfernung, wie sie mit gelangweilter Miene auf einem Handy tippte.
„Ist das die Leichenchaffeuse?“, wendete er sich fragend Anna zu.
Sie bejahte und mit einer Handbewegung bedeutete ihr zu folgen.
Carmen hörte die beiden herankommen und verstaute das Telefon in die Tasche ihrer Hose.
„Kommissar Paul Leuschen. Meine Kollegin kennen sie bereits. Wir werden den Fall gemeinsam bearbeiten.“
Sie richtete ihre Augen auf ihn und nahm die angebotene Hand mit einem schlaffen Druck entgegen.
„Carmen Terhagen. Ein Theater ist das hier“, warf sie ihm sichtlich gereizt entgegen, „was passiert denn nun mit dem Holzkittelträger und vor allem, wann kann ich meine Tasche wiederhaben?“
„Die Jungs von der Gerichtsmedizin werden sich der Sache annehmen. Treffen gleich ein und kümmern sich um den Abtransport. Ich danke schon mal für ihre Geduld.“
Er kramte in der Hosentasche und beförderte eine zerknitterte Visitenkarte an das Neonlicht.
„Rufen Sie uns an, wenn ihnen noch etwas einfallen sollte, das von Bedeutung sein könnte. Unabhängig davon werden wir sie in den nächsten Tagen sicher noch mal kontaktieren.“
Carmen nahm die Karte entgegen und warf einen gelangweilten Blick darauf.
„Ok, von mir aus…“, entgegnete sie mit einem entnervten Unterton.
Paul nickte ihr freundlich zu und zog Anna beiseite.
„Lass uns gehen und noch eine Kappe Schlaf nehmen. Wir treffen uns dann später auf dem Revier und entwerfen coole Pläne für das weitere Vorgehen“, sagte Paul.
„Klingt brauchbar“, antwortete sie und hielt sich gähnend eine Hand vor dem Mund, „dann mal beste Grüße an Angelina und sie soll mir ihren Mann schicken.“
Anna zwinkerte ihm verschwörerisch zu, bevor sie sich abwendete und ihren Wagen ansteuerte.
„Bin momentan leider unabkömmlich“, warf er ihr noch hinterher.
Sie lachte laut als sie in ihr Cabrio stieg.

Paul ließ sich auf den Fahrersitz des Diplomats gleiten, startete die Maschine, rangierte aus der Parklücke und rollte auf die Straße. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck starrte er durch die Scheibe. Die Lichter des Wagens durchschnitten die Nacht und Häuser huschten vorbei. Ihm fröstelte bei dem Gedanken an das Gesehene. Wohl aber nicht nur deswegen. Ein kalter Hauch schien durch das Wageninnere zu strömen und Paul spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Instinktiv tastete er zu der Waffe an seinem Gürtel.
„Das brauchen sie nicht“, tönte es mit einem Male in seinem Rücken.
Er zuckte zusammen. Der Wagen schlingerte kurz.
„Fahren sie bitte weiter.“
Paul sah in den Rückspiegel und blickte in das Gesicht eines Aliens. Zwar war dieses seine erste Begegnung mit einem, aber er benötigte keine Google-Recherche um sich seiner Sache sicher zu sein. Das gelbe Augenpaar, das ihn freundlich durch den Spiegel ansah, sprach für sich. Ein auffällig großes Augenpaar, welches große Teile des schmalen Gesichtes blassblauer Färbung einnahm. Dazu ein kleiner, dünnlippiger Mund, der sich zu einem angedeuteten Lächeln verzogen zu haben schien.
Er hatte nichts gegen Aliens. Grundsätzlich nicht. Wenn es ihm auch unter diesen Umständen ungelegen schien. Mitten in der Nacht, auf der Rückbank seines Wagens und unter dem Eindruck des Besuches eines eher ungewöhnlichen Tatortes.
„Wer zur Hölle sind sie und was machen sie in meinem Wagen?“
Die fremde Erscheinung drehte den Kopf und sah durch die Scheibe. Die vorbeiziehenden Straßenlaternen warfen glitzernden Schimmer auf das glatte, schwarze Haar des Wesens, das straff über den Kopf zurückgelegt war und kleine Ohren umrahmte, die nahezu vollständig in den Kopf eingelassen schienen.
„Ka-Hal, wobei mein Name in ihrer Sprache nur unzureichend dargestellt ist.“
Das Wesen hatte wieder den Kopf gewendet und schaute ihn durch den Spiegel an. Lidähnliche Häute fuhren in schneller Abfolge über die Augen und es wirkte, als würde es ihm zublinzeln.
„Ok, Ka-Hal, was zum Henker machen sie in meinem Wagen? Was wollen sie von mir?“
„Nun, wir sind so etwas wie Kollegen. In meiner Heimat gehe ich einer vergleichbaren Tätigkeit zu ihrer nach.“
„Unterbezahlter Jäger lichtscheuer Existenzen? Herzlichen Glückwunsch und weiter?“
„Dieser Fall ist ziemlich brisant.“
„Welcher Fall?“, entgegnet Paul.
„Die Leiche, die sie soeben gefunden haben.“
„Was wissen sie darüber und was haben sie damit zu tun?“
„Edwin war eine wichtige Person für uns. So etwas wie ein Mittelsmann. Hat Kontakte koordiniert.“
Paul entfuhr ein heiseres Lachen. Er trat auf die Bremse, lenkte den Wagen an den Straßenrand, schaltete ihn aus und wendete sich dem Besucher zu.
„Hören sie, wer auch immer sie sein mögen. Ich bin müde und genervt. Sie haben sich auf den Rücksitz geschlichen und erzählen mir hier eine wirre Geschichte von anderen Welten. Dafür habe ich jetzt echt keine Geduldskapazitäten. Steigen sie einfach nur aus und wir gehen unserer Wege. Sie, wo immer sie hin wollen und ich ins Bett.“
Das Wesen schaute ihn für einen Moment aus großen, gelben Augen an und betätigte dann den Türöffner.
„Gut, ich werde gehen. Ruhen sie sich aus und wir reden später.“
Im Halbdunkel sah Paul eine Handbewegung und wie ein Gegenstand auf den Beifahrersitz fiel. Er warf einen Blick darauf und erkannte ein flaches, rechteckiges Ding, das etwa Spielkartengröße haben mochte. Es schimmerte metallen im Schein der Laternen. Bevor er sich näher mit dem Objekt beschäftigen konnte, hörte er das dumpfe Geräusch der zuschlagenden Autotüre.
Paul hob den Kopf und sah kopfschüttelnd dem Fremden nach, wie dieser gerade ausgestiegen war und sich rasch vom Wagen entfernte. Er startete den Motor und lenkte den Diplomat wieder auf die Straße. Als er erneut in den Rückspiegel sah, war der Fremde verschwunden. Beinahe so, als hätte es ihn nie gegeben.
Paul schüttelte den Kopf und grinste.
„Verrückt“, schoss es ihm durch den Sinn, „eine irre Welt, in der wir leben“.
Das dachte er auch noch später, als sein Kopf auf das Kissen im heimischen Bett sank. Unmittelbar neben dem Nachttisch, auf dem sein Handy lag und ein metallisches Objekt, das seltsam bläulich im Licht der durch die Jalousien eintretenden Strahlen der Straßenbeleuchtung schimmerte.
Paul verfiel in einen unruhigen Schlaf…

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