Dienstag, 28. April 2015

Leise Gedanken zu einem gelebten Leben

Es liegt viele Jahre zurück, ein anderes Leben in einer anderen Tätigkeit, die mir heute so fern scheint.

Ich hatte Nachtdienst. Es war zu fortgeschrittener Zeit, als das Telefon klingelte und eine ältere Dame zur Verlegung angekündigt wurde. Es klang nach einer Routinesache und so traf ich entsprechende Vorbereitungen - Monitorplatz präparieren, Anlegen der üblichen Akte und all diese Dinge, die eine Aufnahme eben erforderte.

Nur wenige Zeit später öffneten sich die Automatiktüren und ein Bett wurde in den Gang geschoben. Ich ging den Kollegen entgegen und ließ mir die Details schildern - Herzinsuffizienz im fortgeschrittenen Stadium, Überleitungsstörungen, lediglich Überwachung, keine weiteren Maßnahmen. Kopfnickend nahm ich die Informationen entgegen und wandte mich der Dame zu.
"Hallo...Sie sind bereits informiert worden, ich werde sie jetzt zur Kontrolle an einen Monitorplatz legen."

Unter dem weißen Haarschopf blickte mir ein Gesicht entgegen, von Lebenslinien markiert, müde, aber mit wachen Augen. In nahezu aristokratischer Haltung hielt sie ihren Körper halb aufgerichtet im Bett. Ohne Zweifel eine Persönlichkeit. Eine Dame durch und durch - nicht zutreffender als hier wäre der Begriff angebracht gewesen. In stiller Bewunderung nahm ich dieses zur Kenntnis und schob sie in das Zimmer.

Sie ließ die übliche Prozedur der Aufnahme geduldig über sich ergehen und während ich Elektroden platzierte und die Geräte anschloss, wechselten wir einige Worte.
"Nein, ich habe keine Angehörigen. Kinder hatten wir nie und mein Mann ist vor einigen Jahren verstorben."
Es war dies eine Biographie, wie ich sie schon viele Male gehört hatte und mir doch jedesmal zu denken gab - die Vorstellung eines Lebens ohne Familienbindung.

Das EKG zeigte kein erfreuliches Bild und zeugte von einem Herzen, das tausend-, millionenfach geschlagen hatte und nun erschöpft, seinen Dienst nicht mehr zu entrichten vermochte.
Sofort begann der Monitor Alarm zu schlagen, erkannte die Maschine doch die Unregelmäßigkeiten des Kreislaufes. Ich deaktivierte den Alarm und setzte mich zu ihr auf den Bettrand.

Zahllose Menschen hatte ich sterben sehen. Manche überraschend, manche nach qualvoller Zeit, manche in Erwartung. Die Gesichter und Namen verschwimmen nach einiger Zeit, nur einzelne Bilder bleiben im Gedächtnis. Ergreifende Momente. Schmerzensschreie der trauernden Familienmitglieder, Menschen, die das Loslassen fürchten.

Sie ergriff meine Hand.
"Es ist gut, ich bin bereit", ein stilles Lächeln huschte dabei über ihr Gesicht.
Selten zuvor hatte ich eine solch gefasste Gelassenheit im Anblick des nahenden Endes erlebt. Es schnürte mir die Kehle zu und das Sprechen fiel mir schwer.
"Soll...ich bleiben ?"
Sie nickte feundlich und griff meine Hand fester.

Es war dunkel im Zimmer. Nur das kleine Licht über dem Bildschirm ließ Gesichtszüge erkennen. Vor dem halbgeöffneten Fenster malte die warme Sommernacht ihre gedeckten Farben.
Wir saßen beinander und sprachen nur wenig. Worte waren nicht nötig und erschienen überflüssig.

Ich hielt noch ihre Hand, als der Monitor keine Herzaktivitäten mehr registrierte und ich ihn ausschaltete.
Das sanfte Lächeln zeichnete noch ihr Gesicht, als ich vorsichtig meine Hand löste. Ihr Atem hatte bereits vor Minuten gestoppt.

Während ich mir die Tränen aus den Augenwinkeln wischte, sah ich noch einmal in das Gesicht dieser so erhabenen und gefassten Frau.
Ein Leben war zur Neige gegeangen. Nicht nur ein Leben, ihr Leben.

Leise schloss ich die Tür hinter mir, lehnte mich an den Rahmen und atmete tief durch, bevor mich wieder die Routine erfasste...

© by P.H.

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