Der kleine Timmi fieberte. Nicht das erste Mal in diesem Jahr. Erst vor wenigen Wochen hatte ihn eine schlimme Lungenentzündung das Krankenlager hüten lassen. Gerade erholt, hatte ihn nun, wenige Tage vor dem Weihnachtsabend, erneut das Fieber gepackt.
Nicht nur Timmi bedauerte das, auch Mama war ziemlich traurig. Lena sah es in den
sorgenvollen Blicken und müden Bewegungen, wenn sie mit ihr in der Küche
saß und Plätzchenformen aus dem Teig stanzte. Beiden fehlten dann die
kleinen, unbeholfenen Händchen ihres Bruders, die es ihnen nachzueifern versuchten und stolz eigenartige Gebilde in die Höhe hielten.
„Timmi hat eine Ente gemacht“, kam es aus seinem Mund und Lena musste
lachen, weil es eher einem Spiegelei ähnelte. Mama zauberte dann einen
bewundernden Ausdruck auf ihr Gesicht und lobte ihn.
„Timmi ist ein Teigkünstler“, sagte sie und strich ihm durch das mehlverzierte Haar. Später, als Papa nach Hause kam, hatte er ihm ebenfalls seine Arbeiten präsentiert, was ihm nochmals größte Anerkennung bescherte.
„Ein van Gogh der Weihnachtsbäckerei“, kommentierte dieser lächelnd. Timmi
wusste zwar nicht, was es bedeutete, fand aber dass es ziemlich gut klang. Den ganzen Abend war er dann mit stolz geschwellter Brust durch die Wohnung getapst. So, dass sich alle bei seinem Anblick kaum das Lachen verkneifen konnten und sich auch noch amüsierten als er bereits, völlig erschöpft von dem Küchenspektakel, freiwillig sein Bett aufgesucht hatte.
Das kleine Bett, in dem er nun mit fiebrig rotem Gesicht und geschlossenen Augen lag. Mama saß neben ihm und tupfte mit einem nassen Lappen über sein Gesicht, da sich immer wieder feine Schweißperlen auf der Stirn bildeten.
„Lena“, sagte sie plötzlich, „kannst du bitte schnell mal in die
Apotheke laufen und ein bestelltes Medikament holen? Ich habe hier einen
Zettel, den gibst du dort ab.“
Lena griff nach dem Papier, das Mama aus der Tasche zog und
steckte es ein.
„Klar, mache mich gleich auf den Weg.“
Sie dachte, dass es sicher nicht schlecht wäre, ein wenig frische
Luft zu atmen und außerdem hatte sie das Gefühl, sich auf diese Weise nützlich
machen zu können.
Lena schlüpfte in ihre warmen Winterstiefel, zog den Mantel über,
wickelte sich einen Schal um den Hals und verließ die Wohnung.
Draußen war es bereits dunkel. Seit Tagen hatte es immer wieder
geschneit, so dass der Schnee an ungeräumten Stellen beinahe kniehoch lag. Lena
stapfte die Straße entlang, vorbei an den Häusern des Stadtviertels. In vielen
der Fenster waren bereits farbenprächtige Lichtspiele mit weihnachtlichen
Motiven angebracht, die bunt leuchteten. Normalerweise wäre sie langsam vorbei
geschlendert und hätte das Spektakel in aller Ruhe auf sich wirken lassen. Dazu
war heute aber keine Zeit und in der Stimmung war sie auch nicht.
So schritt sie zügig voran und hinterließ knirschend Spuren in dem
frischen Schnee. Es war gar nicht so kalt, wie Lena zunächst befürchtet hatte
und beherzt nahm sie den Weg durch den kleinen Stadtpark - vorbei an
Rasenflächen, die ihr Grün unter einem dicken Schneemantel verborgen hielten
und dem Teich, dessen Ufer an den Wegrand grenzten. Hell schimmerte die weiße
Fläche des Weihers. In Glanz getaucht durch das Licht des Mondes, der hoch am
Himmel einen silbernen Schein spendete. Die Kälte der vergangenen Tage hatte den
Teich vollständig gefrieren lassen. Buntes Treiben herrschte hier am Tage, wenn
die Kinder mit Schlittschuhen das Eis befuhren. Gar nicht zu vergleichen mit
der gespenstischen Stille, die nun über dem Park lag. Es schien, als sei keine
Menschenseele auf den Beinen.
So dachte Lena, als sie plötzlich aus den Augenwinkeln eine
Bewegung am Rande des Teiches bemerkte. Erschrocken fuhr sie herum und was sie
sah, ließ sie erstaunt innehalten: Am Ufer des Weihers stand ein Mädchen und
blickte auf das Eis hinaus. Verblüfft starrte Lena zu der Gestalt und bemerkte,
dass sie lediglich ein Nachthemd zu tragen schien. Ein einzelnes
Kleidungsstück, das ihr bis zu den Knien reichte. Weiß schimmerte es im
Mondlicht und an den Füßen trug sie keine Schuhe. Barfuß stand sie im Schnee,
der das Ufer bedeckte.
Lena fasste sich ein Herz und trat auf sie zu.
„He, du – alles in Ordnung mit dir?“
Das Mädchen drehte sich herum und sah Lena an. Sie mochte ungefähr
ihre Größe haben. Das Gesicht von blasser Färbung, eingerahmt von hellem
glatten Haar. Freundlich blickten sie sie aus dunklen Augen an.
„Ja, danke, es ist alles gut.“
Lena beäugte sie kritisch.
„Sag mal, ist dir denn nicht kalt? Möchtest du vielleicht meine
Schuhe und Jacke haben? Ich wohne nicht weit weg von hier. Könnte es dir gerne
geben.“
Das Mädchen lächelte Lena freundlich an.
„Nein, das ist nicht nötig. Mir ist nicht kalt. Ist denn bei dir
alles in Ordnung?“
Skeptisch beäugte Lena die Erscheinung, konnte aber weder eine
Gänsehaut, noch von Kälte verfärbte Hautpartien erkennen. Schließlich zuckte
sie mit den Schultern und seufzte.
„Naja, ich bin auf dem Weg in die Apotheke. Mein kleiner Bruder
ist krank und braucht Medizin.“
„Das ist ziemlich traurig. Ganz sicher braucht er aber auch dich.
Du magst ihn sehr, nicht wahr?“
Lena wischte mit dem Jackenärmel eine kleine Träne auf, die sich
im Augenwinkel gebildet hatte.
„Ja, irgendwie ist es, als hätte er mit seinen kleinen Händchen
eine Ecke meines Herzens genommen. Klar mag ich ihn und es macht mir Angst,
dass er wieder krank ist.“
Lena fiel es zunehmend schwer zu sprechen. Das Mädchen ging einen
Schritt auf sie zu und hob die Hand. Sanft strich sie über ihre Wange.
Überraschenderweise fühlte es sich warm und wohltuend an.
„Ach, weißt du, manche Kinder werden auf einem Bett aus
Distelzweigen geboren. Sie bedürfen unserer besonderen Aufmerksamkeit. Doch du
wächst damit und die Stärke, die du gewinnst, gibst du auch zurück.“
Lena schaute das Mädchen an und im fahlen Mondlicht schien es ihr
für einen Moment, als sehe sie die Erscheinung einer alten Frau. Einer sehr
alten Frau, deren dünnes, silbriges Haar, sich um ein freundliches Gesicht
spann, welches von Weisheit und vielen Lebensjahren geformt wirkte. Nur einen
Augenblick, dann lächelte sie wieder das Mädchen an.
„Nun, gehe und mach deine Erledigungen. Deine Mutter wird sich
sonst Sorgen machen.“
„Du hast recht“, bemerkte Lena erschrocken, „ich sollte mich
beeilen. Danke für deine netten Worte.“
Hastig drehte sich Lena herum und stapfte in Richtung des Weges.
Als sie diesen erreicht hatte, drehte sich sie sich herum, um den Mädchen zu
winken, aber so sehr sie sich auch Ausschau hielt, es war niemand mehr zu
sehen. Der Park schien wieder so menschenleer wie sie ihn vor der Begegnung
erlebt hatte.
Lena erreichte wenig später die Apotheke, legte den Zettel vor und
erhielt eine Packung, die sie sorgsam in ihrer Manteltasche verstaute. Rasch
begab sie sich auf den Heimweg und war froh, als sie bald die Lichter des
Hauses erblickte, in dem ihre Mutter schon auf sie wartete.
Lena schloss die Tür auf und im nächsten Moment blieb sie wie
erstarrt auf der Türschwelle stehen. Geräusche drangen aus dem Kinderzimmer, Geräusche,
die sie in große Überraschung versetzten und ihr Herz höher schlagen ließen. Deutlich
waren lachende Laute zu vernehmen und es war Timmis Stimme, die da klang.
Lautstark mischte sich diese mit der ihrer Mutter.
Hastig warf Lena ihre Winterkleidung ab, streifte die Stiefel von
den Füßen, schleuderte sie in die Ecke und stürzte in Richtung der Stimmen.
Timmi saß inmitten eines Meeres aus Malpapier und reckte stolz
einen Wachsmalstift in die Höhe. Als er seine Schwester erblickte, legte sich
ein breites Lächeln über das Gesicht.
„Timmi ist wieder gesund.“
Dann hob er eines der Blätter in die Höhe, das ein buntes Linienwirrwarr
zierte und zeigte darauf.
„Timmi hat geträumt. Von Lena und der Fee vom See. Guck mal.“
Lena blieben die Worte im Halse stecken. Sie lief auf ihren Bruder
zu, hob ihn in die Höhe und drückte ihn an die Brust, bis er leise zu
protestieren begann. Mama saß auf dem Rande von Timmis Bett und sah die beiden
lächelnd an.
„Ich weiß nicht, was hier für Kräfte am Werk waren, aber tut gut,
euch so zu sehen.“
Das folgende Weihnachtsfest war eines der schönsten, das die
Familie erlebte und so oft Lena in der Folgezeit auch immer wieder den Teich in
dem kleinen Stadtpark besuchte - das Mädchen ohne Schuhe sah sie nie wieder.
Dafür wurde aus dem kleinen Timmi im Laufe der Jahre ein großer
Bruder. Hoch gewachsen und von kräftiger Statur. Krank wurde er nur noch selten
und das besondere Band zwischen den Geschwistern blieb zeitlebens bestehen.
© by P.H.
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