Freitag, 21. Oktober 2011

Jäger lichtscheuer Existenzen


Ein mieser Tag. Ein bemerkenswert mieser Tag. Zuerst hatte Carmen verschlafen und war viel zu spät im Büro erschienen. Klar, dass der Boss die Gelegenheit nutzte, um ihr wieder mal eine gepflegte Standpauke zu verabreichen. Die übliche Leier. Thematisch irgendwo zwischen Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit oszillierend. Den exakten Inhalt hätte Carmen gar nicht mehr wiedergeben können. Sie hatte sich längst angewöhnt, seiner verbalen Materialschlacht mit ambossartiger Gelassenheit und einem heruntergefahrenen Aufnahmesystem zu begegnen.
Dann hatte Mutter angerufen und von ihrer Arthrose erzählt. Gefühlte Spielfilmlänge. Mindestens „Ben Hur“ und mit diesem vorwurfsvoll jammernden Unterton. Als würde ihr Dasein nur dem Zweck dienen, alles Leid dieser Welt in sich zu bündeln. Während die Worte durch die Freisprecheinrichtung tropften und Carmen hin und wieder ein „Oh“ oder ein „Ach“ einwarf, hatte sie die Gelegenheit genutzt und ihre Fingernägel auf Blickfangniveau lackiert. Feuerrot. In gar nicht unbeabsichtigter Signalwirkung für das anstehende Date. Unrentable Kleinkunst, denn hätte Carmen gewusst, dass sie am Abend eine halbe Ewigkeit in diesem Club sitzen und erfolglos auf Arnd warten würde, hätte sie sich die künstlerischen Aktivitäten an ihren Fingerenden erspart. Eigentlich waren sie verabredet gewesen, aber Hoheit hatte es vorgezogen, nicht zu erscheinen. Einfach so. Ohne Absage und ihre Anrufe auf seinem Handy blieben unbeantwortet.

Irgendwann, zwei Cocktails später, hatte sie ziemlich missmutig den Laden verlassen und war zu ihrem Auto gegangen. Nicht, dass ihr der Tag schon genug an Frustsouvenirs eingebracht hatte, zu allem Überfluss gab es dann auch noch ein Problem mit dem Wagen. Heute blieb ihr nichts erspart. Nicht mal dieses Telefonat mit dem Polizeinotruf:
„Hallo?“
„Ja, was kann ich für sie tun?“
„Meine Handtasche liegt im Kofferraum und ich komme nicht heran!“
Der Typ am anderen Ende der Leitung wirkte etwas gereizt:
„Gute Frau, sie haben die Polizei gerufen. Was sollen wir da, ihrer Meinung nach, unternehmen? Ist sie denn gestohlen worden?“
„Nein, das ist es nicht. Komme da einfach nicht heran…“
„Wollen sie mich auf den Arm nehmen?“
Carmen schnaubte entnervt.
„Hören sie, mein Tag war echt beschissen. Nach Scherzen ist mir mal gar nicht. Alles, was ich will, ist diese dämliche Tasche. Geht aber nicht, weil da so eine blöde Leiche drauf liegt.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte für einen Moment besinnliche Stille, bevor die Stimme erneut ansetzte:
„Ist das ihr Ernst oder wollen sie mich veralbern?“
„Man man, sie sind doch zuständig für biologische Totalausfälle oder nicht? Kein Ahnung, wie das in meinen Wagen gelandet ist. Jedenfalls komme ich gerade aus dem Club, wollte meine Handtasche aus dem Kofferraum holen und da liegt nun dieser Erdmöbelkunde. Ziemlich bleich und vom Lebensspielfeld genommen. Mal abgesehen davon - wissen sie, was so eine Prada-Tasche kostet? Ein Vermögen! Was, wenn die nun hin ist? Wie ich die Versicherung kenne, werden die mir nicht einen Cent erstatten!“
Nach einem weiteren Moment des Schweigens, schien der Typ am anderen Ende die Lage zu erfassen:
„Ok, hoffentlich ist das ist keine Scherz. Fassen sie bitte nichts an. Ich schicke das Team von der Spurensicherung heraus. Wo ist ihr Standort?“
„Der Parkplatz vor dem Club Andromeda.“
„Gut, kennen wir. Bleiben sie an ihrem Wagen. Meine Kollegen sind in einigen Minuten vor Ort.“
Dann legte er auf.
Entnervt schlug Carmen den Kofferraumdeckel des silbernen Alfas zu und lehnte sich wartend gegen den Wagen.

Als würde eine Hummel auf dem Rasierapparat surfen. So etwa klang es in Pauls Ohren, als das Handy auf dem Nachttisch um Aufmerksamkeit summte. Der Vibrationsalarm versetzte das ganze Möbel in Schwingung. Kaum zu überhören, selbst mit einer Schlafdosis weit unter der empfohlenen Mindestmenge.
In einem nur halbherzigen Kampf gegen die Mächte der Müdigkeit schälte sich Paul halbseitig aus der wärmenden Daunendecke hervor und fuhr tastend die Hand aus. Nach einigen Fehlversuchen fanden seine Finger den digitalen Störenfrieden. Bedächtig führte er die Sprachmaschine ohrenwärts und betätigte dabei die Plappertaste.
„Maan…jetzt bin ich aber gespannt…“
„Paul?“, tönte es aus der Leitung, „bist Du wach?“
„Selbstverständlich…welcher Irre käme auf die verwegene Idee, nachts zu schlafen?“
„Anna hier. Sorry, aber es gibt Arbeit - Leiche im Kofferraum eines Alfas. Parkplatz vor dem Andromeda.“

In einem Sinkflug durch den Nebel der Erkenntnis begannen sich Pauls Gedanken zu sortieren. Anna, seine Partnerin im Morddezernat. Eine hübsche Erscheinung mit langen, roten Haaren, grünen Katzenaugen und ziemlich weiblicher Silhouette. Immer voll übersprühender Energie, starrköpfig und phasenweise eine wandelnde Materialprüfung für Nervenstränge.
„Soll bei italienischen Pastaschüsseln des Öfteren vorkommen…“
„Na ja, die Besitzerin des Wagens ist ziemlich uneuphorisch. Fährt üblicherweise keine Leichen durch die Landschaft. Klingt für mich recht glaubwürdig“
Paul dachte kurz nach und kam zu der Erkenntnis, dass Kofferräume nicht das gängige Biotop für Leichen sind. Egal welcher Wagentyp.
„Ok, bin auf dem Weg.“
Er beendete das Gespräch und warf die Sprachmaschine wieder auf dem Nachttisch ab.

Fluchend dirigierte Paul seine Beine aus dem Bett und bezog sitzende Position auf der Bettkante. Träge massierte er seine Schläfen, während der Denkapparat das Programm zur örtlichen und zeitlichen Orientierung startete.
Durch die heruntergelassenen Jalousien im Schlafzimmer drang lediglich das Licht der Straßenlaterne und der Blick auf den Radiowecker ließ ihn stöhnend den Kopf schütteln. 1:23 Uhr – eine Zeit, in der sich lediglich Gesetzeshüter auf der Straße herumtrieben und solche, die denen aus dem Wege zu gehen versuchten.

Er stemmte sich in die Höhe und verharrte einen Moment in dem Stadium horizontalen Standes, bevor er tastend aus dem Zimmer wankte, den Flur passierte und den Lichtschalter vor dem Badezimmer betätigte
Die plötzliche Helligkeit ließ ihn blinzeln und nur bruchstückhaft ein mit Schlaf unterversorgtes Gesicht im Spiegel erkennen. Die kurzen, dunkelblonden und vereinzelt ergrauenden Haare standen wirr auf dem Kopf und dunkle Ringansätze zierten die untere Augenpartie. Für die Endrunde des „Sexiest Man Alive“ hätte es vermutlich nicht gereicht. Musste es auch nicht. Paul war Ganovenschreck in Staatsdiensten. Mordkommission. Schon seit 21 Jahren und das durchaus erfolgreich. Aufklärungsquote nahe 100%. Sicherlich nicht nur ein Verdienst des skalpellscharfen Verstandes, dem man ihm nachsagte, sondern auch der Zähigkeit. Anders gesagt: Hatte er sich einmal in einem Fall verbissen, vermochte er kaum abzulassen, bis dieser geklärt war. „Zecke Paul“, flüsterten sie dann hinter seinem Rücken und glaubten, er würde es nicht hören. Paul empfand dies durchaus als Kompliment und registrierte es mit einem heimlichen Grinsen.

Er bezog Platz vor dem Waschbecken, drehte das warme Wasser auf, ließ eine Handvoll Nass mit seinem Gesicht Kontakt aufnehmen und fuhr sich dann durch die Haare. Mit einer Bürste brachte er diese in Form und befand sich, nach einem prüfenden Blick in den Spiegel, für halbwegs gesellschaftstauglich. Die belebende Wirkung der Maßnahmen schien nun auch das Blau seiner Augen einen Hauch wacher erscheinen.
Paul ging zurück in das Schlafzimmer, fischte einige Kleidungsstücke aus dem Schrank und streifte diese über. Die zu erwartenden Temperaturen in dem Sommermonat ließen ihn ein T-Shirt zu der üblichen Jeans hinreichend erscheinen. Mit seinen 42 Jahren machte er in dieser Ausstattung immer noch eine gute Figur. Die regelmäßigen Besuche im Trainingsraum des Polizeireviers hatten zu sichtbaren Resultaten geführt. Auf gut 180 cm Länge tummelten sich nur wenige, erkennbare Kohlehydratspeicher und der muskulöse Oberkörper ließ erahnen, dass der Besitzer einen festen Händedruck zu erwidern wusste.

Paul prüfte den Sitz seiner Dienstwaffe am Gürtel, angelte die Schlüssel vom Haken, löschte alle Lichter, öffnete die Tür, trat hinaus und zog sie hinter sich zu.
Die Luft war klar und frisch. Dennoch war es warm. Ein wenig, als hätte jemand die Tür des Tagesbackofens geöffnet gelassen und die Restwärme würde sich nun mit der Nachtluft mischen. Bei dem Gedanken musste er grinsen. Kurz hielt er inne und sog die Luft in sich auf. Die Stille ließ ihn dabei nichts als das Geräusch seiner Atemzüge hören. Eine irritierende Stille. Kein Straßenlärm, keine vorbeihuschenden Menschen, nicht einmal der Klang musizierender Federtiere war zu vernehmen. Als hätte jemand die Mute-Taste gedrückt. In diesem Moment wurde Paul von einem kalten Lufthauch im Nacken gestreift und für einen Augenblick schien die Straßenlaterne vor dem Haus zu flackern. Er schüttelte sich und schob die irritierende Wahrnehmung beiseite.
„Kein Wunder, wenn man unterkoffeiniert und im Schlafdefizit aus dem Haus stürzt“, schoss es ihm durch den Kopf.

Paul lenkte seine Schritte zum Auto. Der alte Diplomat war in unmittelbarer Nähe geparkt. Sicher kein zeitgemäßer Untersatz mehr, aber bisher hatte er sich von dem Wagen nicht trennen können. Das Ding war unhandlich, schluckte Sprit wie ein Passagierflugzeug und verschlang ein Vermögen für die Wartung. Andererseits liebte er den Sound des Achtenders unter der Motorhaube und jenes sanfte Schaukeln der Karosserie, wenn man über die Landstraßen glitt. Außerdem hatte er Charakter. Etwas, das ihm bei den Einheitsgefährten neuerer Produktion zu fehlen schien.

Paul entriegelte die Wagentür und ließ sich auf den Fahrersitz gleiten. Mit basslastigem Blubbern startete die Maschine. Er lenkte aus der Parklücke, fischte eine Zigarette aus der Packung, die er sicherheitshalber immer auf der Ablage bereit hielt und zündete diese an. Gierig sog er den Rauch ein und genoss die belebende Wirkung. Ein Laster, das er sich bisher noch nicht abgewöhnt hatte. Er hasste Abhängigkeiten und wusste um die biologiefeindlichen Auswirkungen des Tabaks, hatte aber trotzdem noch nicht genug Willensstärke aufbringen können, dem blauen Dunst zu entsagen. „Irgendwann“, sagte er sich stets und wusste, dass das handelsübliche Motto aller Süchtigen war.

Beherzt drehte er an dem Lautstärkeregler des Soundsystems. Wummernde Beats mischten sich nun mit dem kraftvollen Klang der großvolumigen Maschine. „Wir sind die Nacht“, ließ eine Frauenstimmer hören, gefolgt von pulsierendem Klängen. Selten schien ihm der Track von Covenant passender als in diesem Moment und während er seinen Oberkörper zu dem Rhythmus mitschwingen ließ, fühlte er die Lebensgeister an die Türen seiner Denkstube rütteln. Tatsächlich begann allmählich so etwas wie ein Wohlgefühl in der Bauchregion Platz einzunehmen.
„Irgendwie ziemlich cool“, fuhr es ihm durch die Gedanken.
Ein Kerl mit seinem Wagen über leere Straßen gleitend, Glimmstengel im Lippeneck und wummernden Beats aus der Klangbox. Hatte etwas von einem dieser amerikanischen Serienhelden. Nur fuhr er hier nicht über breite Boulevards, die nachts von bunter Leuchtreklame erleuchtet wurden. Hier war alles um einige Kragenweiten kleiner. Keine Häuserschluchten, die Straße einspurig und lediglich von dem trüben Schein der Straßenlaternen erhellt, die in regelmäßigen Abständen an ihm vorbei huschten. Paul liebte die nächtliche Vorstadtatmosphäre und hätte sie für keinen Preis der Welt gegen eine dieser schrillen Metropolenkulissen getauscht. Nicht einmal für ein lebenslanges Gratis-Zigarettenabonnement.

Er hatte nicht weit zu fahren. Der Club befand sich nur wenige Kilometer entfernt in einem benachbarten Vorort. Paul hoffte, auf dem Weg eine Möglichkeit zu finden, Essbares zu erstehen. Sein Magen machte sich inzwischen mit anhaltendem Knurren bemerkbar und verlangte nach nährendem Inhalt.
Wenige Minuten später passierte er eine Kreuzung und erspähte die Lichter einer Tankstelle, die weithin sichtbar, auf ihre durchgehenden Öffnungszeiten hinwies. Paul verlangsamte das Tempo und bog auf den Parkplatz ein. Er brachte den Wagen zum Stehen, schaltete den Motor aus und schälte sich aus dem Sitz.

Im hell erleuchteten Verkaufsraum herrschte nächtliche Gelassenheit. Eine sichtlich gelangweilte Angestellte drückte sich hinter der Theke herum. Mit einem kurzen Seitenblick nur hatte sie ihn registriert, bevor sie wieder auf den Bildschirm starrte, der mitten im Verkaufraum unterhalb der Decke montiert war und zappelnde Bilder eines Musiksenders ausstrahlte. Dazu kaute sie hektisch an einem Kaugummi und wippte ihren Kopf zu der Musik, die aus den Lautsprechern des Apparates drang.
Paul steuerte die verglaste Auslage am Rande der Theke an, in dem er einige Esswaren erspäht hatte. Bei näherer Betrachtung entpuppten sich diese als Backwaren, die aufgrund der Oberflächenbeschaffenheit ihre Ofenfrische weit hinter sich gelassen haben schienen. Paul war das unter den gegebenen Umständen ziemlich gleich.

„Jaaa…?“, tönte die Lady auf der anderen Seite ziemlich desinteressiert, während sie in seine Richtung schlurfte.
Ihr dunkles Haar trug sie in einem kunstvollen Konstrukt zu einem turmähnlichen Gebilde auf dem Kopf. Eine beachtliche Schicht Schminke vermochte nur ansatzweise die Problemhaut zu verbergen, von der das reichhaltig verteilte Schwarz des Lidschattens zudem wohl ablenken sollte. Paul schätzte sie nicht wesentlich älter als 20 Jahre.
„Wir sind die Nacht“, huschte es ihm durch die Gedanken.
„Bin auf Nahrungssuche“, knurrte er ihr entgegen.
„Die Polizei in kulinarischer Mission“, entgegnete sie mit einem spöttischen Gesichtsausdruck, nachdem ihr Blick das Halfter an seinem Gürtel gestreift hatte.
„Was darf ich denn der Staatsgewalt anbieten?“
„Etwas, das ohne Folgeschäden verdaubar ist“, antwortete Paul.
Sie warf einen Blick auf die karge Auslage.
„Schokocroissant. Geht zum halben Preis über den Tisch, weil von gestern. Ist aber ok. Habe mir vorhin selber eines gegönnt.“
Er fixierte sie kurz, als wollte er sich der Verträglichkeit des Produktes an ihrer Erscheinung vergewissern und nickte schließlich.
„Na dann. Ich nehme eines der Biester.“
Sie packte das Croissant ein und schlurfte zur Kasse. Paul folgte ihr und legte einige Münzen auf die Theke. Sie zählte das Wechselgeld und ließ es in seine ausgestreckte Hand fallen. Kalt berührten ihn ihre Finger dabei. Als er sie ansah war ihr Blick wieder auf den Bildschirm gerichtet und der Kiefer verarbeitete mahlend den Kaugummi.
„Schönen Tag noch, Herr Polizist“, rief sie ihm beim Hinausgehen hinterher.
„Glaube ich nicht“, brummte Paul und steuerte den Diplomat an.

Er warf die Tüte mit dem Backartikel auf den Beifahrersitz, startete den Wagen und fädelte wieder auf der Straße ein.
Einige Kreuzungen und Seitenstraßen später hatte er den Tatort erreicht.

Vor dem Gebäude des Andromedas hatte sich bereits eine Handvoll Fahrzeuge eingefunden, die ihm durchaus vertraut schienen. Er erkannte Annas Cabrio sowie Dienstfahrzeuge der Streife und den Kombi der Spurensicherung. Großzügig war ein Absperrband um den Ort des Geschehens gespannt worden, hinter dem sich einige, wenige Schaulustige eingefunden hatten und das Treiben neugierig verfolgten. Zum größten Teil Besucher des Clubs, die das Nachtprogramm außerhalb der Mauern offensichtlich für unterhaltsamer befunden hatten und nun, in kleinen Gruppen versammelt, die Ereignisse beobachteten.

Paul brachte seinen Diplomat in eine der Parklücken zum Stehen, schnappte sich die Tüte von der Tankstelle und schwang aus dem Wagen.
Anna, die ihn hatte vorfahren sehen, kam ihm sogleich entgegen. Ein Grinsen umspielte ihre vollen Lippen und entblößte makellose Zahnreihen.
„Na, hat es dich auch hierher verschlagen? Keine bessere Beschäftigung gefunden?“
„War gerade mit Angelina Jolie im heißen Sand einer abgelegenen Karibikinsel zugange, als mich der digitale Traumtöter zu terrorisieren begann.“
„Tut mir aufrichtig leid um deinen feuchten Traum. Hier erwartet dich leider weniger warmes Fleisch“, bemerkte Anna spöttisch.
Sie bedeutete ihm zu folgen und lenkte ihre Schritte zu dem Tatort. Paul stiefelte neben ihr her, während er das Croissant aus der Tüte befreite und seine Zähne in der kautschukartigen Backware vergrub. Nicht sein Leibgericht, aber immerhin würde das luftige Gebilde seine Magenwände auskleiden und den Blutzuckerspiegel deutlich über Normalnull steigen lassen.
Während beide über das Absperrband stiegen lauschte er Annas Worten:
„Carmen Terhagen. Kam gegen 1.00 Uhr aus dem Club und wollte ihre Tasche aus dem Kofferraum holen, als sie dort den Verblichenen fand. Die Lady ist Buchhalterin und ein völlig unbeschriebenes Blatt. Weiß nicht, wie ihr geschehen ist. Hat es mehr mit der Modewelt als mit der Unterwelt. Wirkt auf mich glaubwürdig.“
„Und weiß man schon, wer der leblose Kollege im Gepäckabteil sein könnte?“
Sie hatten den Wagen erreicht und blieben vor der geöffneten Klappe des Alfas stehen, während er sich die Reste seiner Mahlzeit einverleibte.

Im Inneren befand sich der leblose Körper eines Mannes. Offensichtlich nicht sehr groß gewachsen und embryonalartig zusammengerollt. Das Haar dunkel und zu einer Bürste geschnitten. Bekleidet war er mit schwarzer Jeans und ebenso farbigem Hemd. Irgendwo zwischen 40 und 50 schätzte Paul sein Alter ein. Auf den ersten Blick waren für ihn keine sichtbaren Spuren eines Kampfes oder sonstiger Gewalteinwirkung zu erkennen. Fast schien es, als hätte der Typ seine Fahrkarte in die ewigen Jagdgründe mit einem Lächeln gezogen.
„Frag mal Thomas, der weiß sicher mehr“, meinte Anna.

Thomas war Beamte der Spurensicherung. Hatte nur noch wenige Jahre bis zur Pensionierung. Ein gelassener und ziemlich ausgefuchster Kollege. Fand stets irgendwelche Nanospuren an Tatorten, die er dann zu juristisch beschusssicheren Beweisen klöppeln konnte. Paul schätzte seine Uhrwerkspräzision und die Erfahrungsmassen, die sich im Laufe von Jahrzehnten bei ihm angestaut hatten. Er war sich sicher, dass wenn er eines Tages Opfer eines heimtückischen Anschlages werden sollte, nirgendwo so fachgerecht seine sterblichen Überreste auf Spuren provozierten Ablebens untersucht werden würden, als in den Händen von Thomas.
.
Paul erspähte ihn etwas abseits des Wagens. Auf dem Boden kauernd und wie er gerade damit beschäftigt war, allerlei Utensilien in einen Koffer zu verstauen.
„Hey, Kollege, schon auf dem Rückzug?“
Thomas drehte sich herum, sah die Gruppe um den Tisch stehen, stand auf und kam zu ihnen herüber.
„Kannst du uns schon mit Details aufheitern?“, wollte Paul wissen.
Thomas nickte nachdenklich.
„Hi erstmal. Na ja, scheint erschossen worden zu sein. Zumindest fanden wir zwei Durchtrittspforten im Bereich des Oberkörpers. Vorne rein und hinten raus - oder umgekehrt. Merkwürdige Geschichte. Ziemlich sauber, geradezu chirurgisch. Keine Projektile und kein Blut zu finden. Weiteres, wenn wir ihn dann auf dem Tisch in der Gerichtsmedizin haben.“
Anna schob sich an Pauls Seite.
„Erkenntnisse zur Person?“
„Hatte keine Papiere dabei, aber ich glaube, ich kenne den Typen.“
„Echt?“, ließ sie erstaunt hören.
„Wenn mich ich nicht irre, dann gehört ihm ein Friseursalon in der Stadt - „Edwins Haarstube“. Glaube, dass ich da mal gastiert habe. Werden das mal checken.“
Paul gab ein schnaubendes Geräusch von sich.
„Na ja, das engt den Kreis möglicher Verdächtige auf unzufriedene Kunden ein. Leute, die statt Haarpracht eine gesprengte Ratte nach der Behandlung auf dem Kopf fanden. “
„Hm…wenn es der ist, den ich meine, dann gäbe es noch einen anderen Aspekt. Der Bursche war ein seltsamer Vogel. Ziemlich esoterisch. Hatte allerlei komisches Zeug in dem Laden. Kristallkugeln und so.“
„Rotes Telefon nach oben“, meinte Paul grinsend.
„Hey, etwas mehr Respekt vor den höheren Mächten bitte“, entgegnete Thomas in gespielter Entrüstung und wendete sich ab, um weiter sein Arbeitsgerät zu verstauen.

Paul drehte sich herum und erspähte Carmen in einiger Entfernung, wie sie mit gelangweilter Miene auf einem Handy tippte.
„Ist das die Leichenchaffeuse?“, wendete er sich fragend Anna zu.
Sie bejahte und mit einer Handbewegung bedeutete ihr zu folgen.
Carmen hörte die beiden herankommen und verstaute das Telefon in die Tasche ihrer Hose.
„Kommissar Paul Leuschen. Meine Kollegin kennen sie bereits. Wir werden den Fall gemeinsam bearbeiten.“
Sie richtete ihre Augen auf ihn und nahm die angebotene Hand mit einem schlaffen Druck entgegen.
„Carmen Terhagen. Ein Theater ist das hier“, warf sie ihm sichtlich gereizt entgegen, „was passiert denn nun mit dem Holzkittelträger und vor allem, wann kann ich meine Tasche wiederhaben?“
„Die Jungs von der Gerichtsmedizin werden sich der Sache annehmen. Treffen gleich ein und kümmern sich um den Abtransport. Ich danke schon mal für ihre Geduld.“
Er kramte in der Hosentasche und beförderte eine zerknitterte Visitenkarte an das Neonlicht.
„Rufen Sie uns an, wenn ihnen noch etwas einfallen sollte, das von Bedeutung sein könnte. Unabhängig davon werden wir sie in den nächsten Tagen sicher noch mal kontaktieren.“
Carmen nahm die Karte entgegen und warf einen gelangweilten Blick darauf.
„Ok, von mir aus…“, entgegnete sie mit einem entnervten Unterton.
Paul nickte ihr freundlich zu und zog Anna beiseite.
„Lass uns gehen und noch eine Kappe Schlaf nehmen. Wir treffen uns dann später auf dem Revier und entwerfen coole Pläne für das weitere Vorgehen“, sagte Paul.
„Klingt brauchbar“, antwortete sie und hielt sich gähnend eine Hand vor dem Mund, „dann mal beste Grüße an Angelina und sie soll mir ihren Mann schicken.“
Anna zwinkerte ihm verschwörerisch zu, bevor sie sich abwendete und ihren Wagen ansteuerte.
„Bin momentan leider unabkömmlich“, warf er ihr noch hinterher.
Sie lachte laut als sie in ihr Cabrio stieg.

Paul ließ sich auf den Fahrersitz des Diplomats gleiten, startete die Maschine, rangierte aus der Parklücke und rollte auf die Straße. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck starrte er durch die Scheibe. Die Lichter des Wagens durchschnitten die Nacht und Häuser huschten vorbei. Ihm fröstelte bei dem Gedanken an das Gesehene. Wohl aber nicht nur deswegen. Ein kalter Hauch schien durch das Wageninnere zu strömen und Paul spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Instinktiv tastete er zu der Waffe an seinem Gürtel.
„Das brauchen sie nicht“, tönte es mit einem Male in seinem Rücken.
Er zuckte zusammen. Der Wagen schlingerte kurz.
„Fahren sie bitte weiter.“
Paul sah in den Rückspiegel und blickte in das Gesicht eines Aliens. Zwar war dieses seine erste Begegnung mit einem, aber er benötigte keine Google-Recherche um sich seiner Sache sicher zu sein. Das gelbe Augenpaar, das ihn freundlich durch den Spiegel ansah, sprach für sich. Ein auffällig großes Augenpaar, welches große Teile des schmalen Gesichtes blassblauer Färbung einnahm. Dazu ein kleiner, dünnlippiger Mund, der sich zu einem angedeuteten Lächeln verzogen zu haben schien.
Er hatte nichts gegen Aliens. Grundsätzlich nicht. Wenn es ihm auch unter diesen Umständen ungelegen schien. Mitten in der Nacht, auf der Rückbank seines Wagens und unter dem Eindruck des Besuches eines eher ungewöhnlichen Tatortes.
„Wer zur Hölle sind sie und was machen sie in meinem Wagen?“
Die fremde Erscheinung drehte den Kopf und sah durch die Scheibe. Die vorbeiziehenden Straßenlaternen warfen glitzernden Schimmer auf das glatte, schwarze Haar des Wesens, das straff über den Kopf zurückgelegt war und kleine Ohren umrahmte, die nahezu vollständig in den Kopf eingelassen schienen.
„Ka-Hal, wobei mein Name in ihrer Sprache nur unzureichend dargestellt ist.“
Das Wesen hatte wieder den Kopf gewendet und schaute ihn durch den Spiegel an. Lidähnliche Häute fuhren in schneller Abfolge über die Augen und es wirkte, als würde es ihm zublinzeln.
„Ok, Ka-Hal, was zum Henker machen sie in meinem Wagen? Was wollen sie von mir?“
„Nun, wir sind so etwas wie Kollegen. In meiner Heimat gehe ich einer vergleichbaren Tätigkeit zu ihrer nach.“
„Unterbezahlter Jäger lichtscheuer Existenzen? Herzlichen Glückwunsch und weiter?“
„Dieser Fall ist ziemlich brisant.“
„Welcher Fall?“, entgegnet Paul.
„Die Leiche, die sie soeben gefunden haben.“
„Was wissen sie darüber und was haben sie damit zu tun?“
„Edwin war eine wichtige Person für uns. So etwas wie ein Mittelsmann. Hat Kontakte koordiniert.“
Paul entfuhr ein heiseres Lachen. Er trat auf die Bremse, lenkte den Wagen an den Straßenrand, schaltete ihn aus und wendete sich dem Besucher zu.
„Hören sie, wer auch immer sie sein mögen. Ich bin müde und genervt. Sie haben sich auf den Rücksitz geschlichen und erzählen mir hier eine wirre Geschichte von anderen Welten. Dafür habe ich jetzt echt keine Geduldskapazitäten. Steigen sie einfach nur aus und wir gehen unserer Wege. Sie, wo immer sie hin wollen und ich ins Bett.“
Das Wesen schaute ihn für einen Moment aus großen, gelben Augen an und betätigte dann den Türöffner.
„Gut, ich werde gehen. Ruhen sie sich aus und wir reden später.“
Im Halbdunkel sah Paul eine Handbewegung und wie ein Gegenstand auf den Beifahrersitz fiel. Er warf einen Blick darauf und erkannte ein flaches, rechteckiges Ding, das etwa Spielkartengröße haben mochte. Es schimmerte metallen im Schein der Laternen. Bevor er sich näher mit dem Objekt beschäftigen konnte, hörte er das dumpfe Geräusch der zuschlagenden Autotüre.
Paul hob den Kopf und sah kopfschüttelnd dem Fremden nach, wie dieser gerade ausgestiegen war und sich rasch vom Wagen entfernte. Er startete den Motor und lenkte den Diplomat wieder auf die Straße. Als er erneut in den Rückspiegel sah, war der Fremde verschwunden. Beinahe so, als hätte es ihn nie gegeben.
Paul schüttelte den Kopf und grinste.
„Verrückt“, schoss es ihm durch den Sinn, „eine irre Welt, in der wir leben“.
Das dachte er auch noch später, als sein Kopf auf das Kissen im heimischen Bett sank. Unmittelbar neben dem Nachttisch, auf dem sein Handy lag und ein metallisches Objekt, das seltsam bläulich im Licht der durch die Jalousien eintretenden Strahlen der Straßenbeleuchtung schimmerte.
Paul verfiel in einen unruhigen Schlaf…


Ein mieser Tag. Ein bemerkenswert mieser Tag. Zuerst hatte Carmen verschlafen und war viel zu spät im Büro erschienen. Klar, dass der Boss die Gelegenheit nutzte, um ihr wieder mal eine gepflegte Standpauke zu verabreichen. Die übliche Leier. Thematisch irgendwo zwischen Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit oszillierend. Den exakten Inhalt hätte Carmen gar nicht mehr wiedergeben können. Sie hatte sich längst angewöhnt, seiner verbalen Materialschlacht mit ambossartiger Gelassenheit und einem heruntergefahrenen Aufnahmesystem zu begegnen.
Dann hatte Mutter angerufen und von ihrer Arthrose erzählt. Gefühlte Spielfilmlänge. Mindestens „Ben Hur“ und mit diesem vorwurfsvoll jammernden Unterton. Als würde ihr Dasein nur dem Zweck dienen, alles Leid dieser Welt in sich zu bündeln. Während die Worte durch die Freisprecheinrichtung tropften und Carmen hin und wieder ein „Oh“ oder ein „Ach“ einwarf, hatte sie die Gelegenheit genutzt und ihre Fingernägel auf Blickfangniveau lackiert. Feuerrot. In gar nicht unbeabsichtigter Signalwirkung für das anstehende Date. Unrentable Kleinkunst, denn hätte Carmen gewusst, dass sie am Abend eine halbe Ewigkeit in diesem Club sitzen und erfolglos auf Arnd warten würde, hätte sie sich die künstlerischen Aktivitäten an ihren Fingerenden erspart. Eigentlich waren sie verabredet gewesen, aber Hoheit hatte es vorgezogen, nicht zu erscheinen. Einfach so. Ohne Absage und ihre Anrufe auf seinem Handy blieben unbeantwortet.

Irgendwann, zwei Cocktails später, hatte sie ziemlich missmutig den Laden verlassen und war zu ihrem Auto gegangen. Nicht, dass ihr der Tag schon genug an Frustsouvenirs eingebracht hatte, zu allem Überfluss gab es dann auch noch ein Problem mit dem Wagen. Heute blieb ihr nichts erspart. Nicht mal dieses Telefonat mit dem Polizeinotruf:
„Hallo?“
„Ja, was kann ich für sie tun?“
„Meine Handtasche liegt im Kofferraum und ich komme nicht heran!“
Der Typ am anderen Ende der Leitung wirkte etwas gereizt:
„Gute Frau, sie haben die Polizei gerufen. Was sollen wir da, ihrer Meinung nach, unternehmen? Ist sie denn gestohlen worden?“
„Nein, das ist es nicht. Komme da einfach nicht heran…“
„Wollen sie mich auf den Arm nehmen?“
Carmen schnaubte entnervt.
„Hören sie, mein Tag war echt beschissen. Nach Scherzen ist mir mal gar nicht. Alles, was ich will, ist diese dämliche Tasche. Geht aber nicht, weil da so eine blöde Leiche drauf liegt.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte für einen Moment besinnliche Stille, bevor die Stimme erneut ansetzte:
„Ist das ihr Ernst oder wollen sie mich veralbern?“
„Man man, sie sind doch zuständig für biologische Totalausfälle oder nicht? Kein Ahnung, wie das in meinen Wagen gelandet ist. Jedenfalls komme ich gerade aus dem Club, wollte meine Handtasche aus dem Kofferraum holen und da liegt nun dieser Erdmöbelkunde. Ziemlich bleich und vom Lebensspielfeld genommen. Mal abgesehen davon - wissen sie, was so eine Prada-Tasche kostet? Ein Vermögen! Was, wenn die nun hin ist? Wie ich die Versicherung kenne, werden die mir nicht einen Cent erstatten!“
Nach einem weiteren Moment des Schweigens, schien der Typ am anderen Ende die Lage zu erfassen:
„Ok, hoffentlich ist das ist keine Scherz. Fassen sie bitte nichts an. Ich schicke das Team von der Spurensicherung heraus. Wo ist ihr Standort?“
„Der Parkplatz vor dem Club Andromeda.“
„Gut, kennen wir. Bleiben sie an ihrem Wagen. Meine Kollegen sind in einigen Minuten vor Ort.“
Dann legte er auf.
Entnervt schlug Carmen den Kofferraumdeckel des silbernen Alfas zu und lehnte sich wartend gegen den Wagen.

Als würde eine Hummel auf dem Rasierapparat surfen. So etwa klang es in Pauls Ohren, als das Handy auf dem Nachttisch um Aufmerksamkeit summte. Der Vibrationsalarm versetzte das ganze Möbel in Schwingung. Kaum zu überhören, selbst mit einer Schlafdosis weit unter der empfohlenen Mindestmenge.
In einem nur halbherzigen Kampf gegen die Mächte der Müdigkeit schälte sich Paul halbseitig aus der wärmenden Daunendecke hervor und fuhr tastend die Hand aus. Nach einigen Fehlversuchen fanden seine Finger den digitalen Störenfrieden. Bedächtig führte er die Sprachmaschine ohrenwärts und betätigte dabei die Plappertaste.
„Maan…jetzt bin ich aber gespannt…“
„Paul?“, tönte es aus der Leitung, „bist Du wach?“
„Selbstverständlich…welcher Irre käme auf die verwegene Idee, nachts zu schlafen?“
„Anna hier. Sorry, aber es gibt Arbeit - Leiche im Kofferraum eines Alfas. Parkplatz vor dem Andromeda.“

In einem Sinkflug durch den Nebel der Erkenntnis begannen sich Pauls Gedanken zu sortieren. Anna, seine Partnerin im Morddezernat. Eine hübsche Erscheinung mit langen, roten Haaren, grünen Katzenaugen und ziemlich weiblicher Silhouette. Immer voll übersprühender Energie, starrköpfig und phasenweise eine wandelnde Materialprüfung für Nervenstränge.
„Soll bei italienischen Pastaschüsseln des Öfteren vorkommen…“
„Na ja, die Besitzerin des Wagens ist ziemlich uneuphorisch. Fährt üblicherweise keine Leichen durch die Landschaft. Klingt für mich recht glaubwürdig“
Paul dachte kurz nach und kam zu der Erkenntnis, dass Kofferräume nicht das gängige Biotop für Leichen sind. Egal welcher Wagentyp.
„Ok, bin auf dem Weg.“
Er beendete das Gespräch und warf die Sprachmaschine wieder auf dem Nachttisch ab.

Fluchend dirigierte Paul seine Beine aus dem Bett und bezog sitzende Position auf der Bettkante. Träge massierte er seine Schläfen, während der Denkapparat das Programm zur örtlichen und zeitlichen Orientierung startete.
Durch die heruntergelassenen Jalousien im Schlafzimmer drang lediglich das Licht der Straßenlaterne und der Blick auf den Radiowecker ließ ihn stöhnend den Kopf schütteln. 1:23 Uhr – eine Zeit, in der sich lediglich Gesetzeshüter auf der Straße herumtrieben und solche, die denen aus dem Wege zu gehen versuchten.

Er stemmte sich in die Höhe und verharrte einen Moment in dem Stadium horizontalen Standes, bevor er tastend aus dem Zimmer wankte, den Flur passierte und den Lichtschalter vor dem Badezimmer betätigte
Die plötzliche Helligkeit ließ ihn blinzeln und nur bruchstückhaft ein mit Schlaf unterversorgtes Gesicht im Spiegel erkennen. Die kurzen, dunkelblonden und vereinzelt ergrauenden Haare standen wirr auf dem Kopf und dunkle Ringansätze zierten die untere Augenpartie. Für die Endrunde des „Sexiest Man Alive“ hätte es vermutlich nicht gereicht. Musste es auch nicht. Paul war Ganovenschreck in Staatsdiensten. Mordkommission. Schon seit 21 Jahren und das durchaus erfolgreich. Aufklärungsquote nahe 100%. Sicherlich nicht nur ein Verdienst des skalpellscharfen Verstandes, dem man ihm nachsagte, sondern auch der Zähigkeit. Anders gesagt: Hatte er sich einmal in einem Fall verbissen, vermochte er kaum abzulassen, bis dieser geklärt war. „Zecke Paul“, flüsterten sie dann hinter seinem Rücken und glaubten, er würde es nicht hören. Paul empfand dies durchaus als Kompliment und registrierte es mit einem heimlichen Grinsen.

Er bezog Platz vor dem Waschbecken, drehte das warme Wasser auf, ließ eine Handvoll Nass mit seinem Gesicht Kontakt aufnehmen und fuhr sich dann durch die Haare. Mit einer Bürste brachte er diese in Form und befand sich, nach einem prüfenden Blick in den Spiegel, für halbwegs gesellschaftstauglich. Die belebende Wirkung der Maßnahmen schien nun auch das Blau seiner Augen einen Hauch wacher erscheinen.
Paul ging zurück in das Schlafzimmer, fischte einige Kleidungsstücke aus dem Schrank und streifte diese über. Die zu erwartenden Temperaturen in dem Sommermonat ließen ihn ein T-Shirt zu der üblichen Jeans hinreichend erscheinen. Mit seinen 42 Jahren machte er in dieser Ausstattung immer noch eine gute Figur. Die regelmäßigen Besuche im Trainingsraum des Polizeireviers hatten zu sichtbaren Resultaten geführt. Auf gut 180 cm Länge tummelten sich nur wenige, erkennbare Kohlehydratspeicher und der muskulöse Oberkörper ließ erahnen, dass der Besitzer einen festen Händedruck zu erwidern wusste.

Paul prüfte den Sitz seiner Dienstwaffe am Gürtel, angelte die Schlüssel vom Haken, löschte alle Lichter, öffnete die Tür, trat hinaus und zog sie hinter sich zu.
Die Luft war klar und frisch. Dennoch war es warm. Ein wenig, als hätte jemand die Tür des Tagesbackofens geöffnet gelassen und die Restwärme würde sich nun mit der Nachtluft mischen. Bei dem Gedanken musste er grinsen. Kurz hielt er inne und sog die Luft in sich auf. Die Stille ließ ihn dabei nichts als das Geräusch seiner Atemzüge hören. Eine irritierende Stille. Kein Straßenlärm, keine vorbeihuschenden Menschen, nicht einmal der Klang musizierender Federtiere war zu vernehmen. Als hätte jemand die Mute-Taste gedrückt. In diesem Moment wurde Paul von einem kalten Lufthauch im Nacken gestreift und für einen Augenblick schien die Straßenlaterne vor dem Haus zu flackern. Er schüttelte sich und schob die irritierende Wahrnehmung beiseite.
„Kein Wunder, wenn man unterkoffeiniert und im Schlafdefizit aus dem Haus stürzt“, schoss es ihm durch den Kopf.

Paul lenkte seine Schritte zum Auto. Der alte Diplomat war in unmittelbarer Nähe geparkt. Sicher kein zeitgemäßer Untersatz mehr, aber bisher hatte er sich von dem Wagen nicht trennen können. Das Ding war unhandlich, schluckte Sprit wie ein Passagierflugzeug und verschlang ein Vermögen für die Wartung. Andererseits liebte er den Sound des Achtenders unter der Motorhaube und jenes sanfte Schaukeln der Karosserie, wenn man über die Landstraßen glitt. Außerdem hatte er Charakter. Etwas, das ihm bei den Einheitsgefährten neuerer Produktion zu fehlen schien.

Paul entriegelte die Wagentür und ließ sich auf den Fahrersitz gleiten. Mit basslastigem Blubbern startete die Maschine. Er lenkte aus der Parklücke, fischte eine Zigarette aus der Packung, die er sicherheitshalber immer auf der Ablage bereit hielt und zündete diese an. Gierig sog er den Rauch ein und genoss die belebende Wirkung. Ein Laster, das er sich bisher noch nicht abgewöhnt hatte. Er hasste Abhängigkeiten und wusste um die biologiefeindlichen Auswirkungen des Tabaks, hatte aber trotzdem noch nicht genug Willensstärke aufbringen können, dem blauen Dunst zu entsagen. „Irgendwann“, sagte er sich stets und wusste, dass das handelsübliche Motto aller Süchtigen war.

Beherzt drehte er an dem Lautstärkeregler des Soundsystems. Wummernde Beats mischten sich nun mit dem kraftvollen Klang der großvolumigen Maschine. „Wir sind die Nacht“, ließ eine Frauenstimmer hören, gefolgt von pulsierendem Klängen. Selten schien ihm der Track von Covenant passender als in diesem Moment und während er seinen Oberkörper zu dem Rhythmus mitschwingen ließ, fühlte er die Lebensgeister an die Türen seiner Denkstube rütteln. Tatsächlich begann allmählich so etwas wie ein Wohlgefühl in der Bauchregion Platz einzunehmen.
„Irgendwie ziemlich cool“, fuhr es ihm durch die Gedanken.
Ein Kerl mit seinem Wagen über leere Straßen gleitend, Glimmstengel im Lippeneck und wummernden Beats aus der Klangbox. Hatte etwas von einem dieser amerikanischen Serienhelden. Nur fuhr er hier nicht über breite Boulevards, die nachts von bunter Leuchtreklame erleuchtet wurden. Hier war alles um einige Kragenweiten kleiner. Keine Häuserschluchten, die Straße einspurig und lediglich von dem trüben Schein der Straßenlaternen erhellt, die in regelmäßigen Abständen an ihm vorbei huschten. Paul liebte die nächtliche Vorstadtatmosphäre und hätte sie für keinen Preis der Welt gegen eine dieser schrillen Metropolenkulissen getauscht. Nicht einmal für ein lebenslanges Gratis-Zigarettenabonnement.

Er hatte nicht weit zu fahren. Der Club befand sich nur wenige Kilometer entfernt in einem benachbarten Vorort. Paul hoffte, auf dem Weg eine Möglichkeit zu finden, Essbares zu erstehen. Sein Magen machte sich inzwischen mit anhaltendem Knurren bemerkbar und verlangte nach nährendem Inhalt.
Wenige Minuten später passierte er eine Kreuzung und erspähte die Lichter einer Tankstelle, die weithin sichtbar, auf ihre durchgehenden Öffnungszeiten hinwies. Paul verlangsamte das Tempo und bog auf den Parkplatz ein. Er brachte den Wagen zum Stehen, schaltete den Motor aus und schälte sich aus dem Sitz.

Im hell erleuchteten Verkaufsraum herrschte nächtliche Gelassenheit. Eine sichtlich gelangweilte Angestellte drückte sich hinter der Theke herum. Mit einem kurzen Seitenblick nur hatte sie ihn registriert, bevor sie wieder auf den Bildschirm starrte, der mitten im Verkaufraum unterhalb der Decke montiert war und zappelnde Bilder eines Musiksenders ausstrahlte. Dazu kaute sie hektisch an einem Kaugummi und wippte ihren Kopf zu der Musik, die aus den Lautsprechern des Apparates drang.
Paul steuerte die verglaste Auslage am Rande der Theke an, in dem er einige Esswaren erspäht hatte. Bei näherer Betrachtung entpuppten sich diese als Backwaren, die aufgrund der Oberflächenbeschaffenheit ihre Ofenfrische weit hinter sich gelassen haben schienen. Paul war das unter den gegebenen Umständen ziemlich gleich.

„Jaaa…?“, tönte die Lady auf der anderen Seite ziemlich desinteressiert, während sie in seine Richtung schlurfte.
Ihr dunkles Haar trug sie in einem kunstvollen Konstrukt zu einem turmähnlichen Gebilde auf dem Kopf. Eine beachtliche Schicht Schminke vermochte nur ansatzweise die Problemhaut zu verbergen, von der das reichhaltig verteilte Schwarz des Lidschattens zudem wohl ablenken sollte. Paul schätzte sie nicht wesentlich älter als 20 Jahre.
„Wir sind die Nacht“, huschte es ihm durch die Gedanken.
„Bin auf Nahrungssuche“, knurrte er ihr entgegen.
„Die Polizei in kulinarischer Mission“, entgegnete sie mit einem spöttischen Gesichtsausdruck, nachdem ihr Blick das Halfter an seinem Gürtel gestreift hatte.
„Was darf ich denn der Staatsgewalt anbieten?“
„Etwas, das ohne Folgeschäden verdaubar ist“, antwortete Paul.
Sie warf einen Blick auf die karge Auslage.
„Schokocroissant. Geht zum halben Preis über den Tisch, weil von gestern. Ist aber ok. Habe mir vorhin selber eines gegönnt.“
Er fixierte sie kurz, als wollte er sich der Verträglichkeit des Produktes an ihrer Erscheinung vergewissern und nickte schließlich.
„Na dann. Ich nehme eines der Biester.“
Sie packte das Croissant ein und schlurfte zur Kasse. Paul folgte ihr und legte einige Münzen auf die Theke. Sie zählte das Wechselgeld und ließ es in seine ausgestreckte Hand fallen. Kalt berührten ihn ihre Finger dabei. Als er sie ansah war ihr Blick wieder auf den Bildschirm gerichtet und der Kiefer verarbeitete mahlend den Kaugummi.
„Schönen Tag noch, Herr Polizist“, rief sie ihm beim Hinausgehen hinterher.
„Glaube ich nicht“, brummte Paul und steuerte den Diplomat an.

Er warf die Tüte mit dem Backartikel auf den Beifahrersitz, startete den Wagen und fädelte wieder auf der Straße ein.
Einige Kreuzungen und Seitenstraßen später hatte er den Tatort erreicht.

Vor dem Gebäude des Andromedas hatte sich bereits eine Handvoll Fahrzeuge eingefunden, die ihm durchaus vertraut schienen. Er erkannte Annas Cabrio sowie Dienstfahrzeuge der Streife und den Kombi der Spurensicherung. Großzügig war ein Absperrband um den Ort des Geschehens gespannt worden, hinter dem sich einige, wenige Schaulustige eingefunden hatten und das Treiben neugierig verfolgten. Zum größten Teil Besucher des Clubs, die das Nachtprogramm außerhalb der Mauern offensichtlich für unterhaltsamer befunden hatten und nun, in kleinen Gruppen versammelt, die Ereignisse beobachteten.

Paul brachte seinen Diplomat in eine der Parklücken zum Stehen, schnappte sich die Tüte von der Tankstelle und schwang aus dem Wagen.
Anna, die ihn hatte vorfahren sehen, kam ihm sogleich entgegen. Ein Grinsen umspielte ihre vollen Lippen und entblößte makellose Zahnreihen.
„Na, hat es dich auch hierher verschlagen? Keine bessere Beschäftigung gefunden?“
„War gerade mit Angelina Jolie im heißen Sand einer abgelegenen Karibikinsel zugange, als mich der digitale Traumtöter zu terrorisieren begann.“
„Tut mir aufrichtig leid um deinen feuchten Traum. Hier erwartet dich leider weniger warmes Fleisch“, bemerkte Anna spöttisch.
Sie bedeutete ihm zu folgen und lenkte ihre Schritte zu dem Tatort. Paul stiefelte neben ihr her, während er das Croissant aus der Tüte befreite und seine Zähne in der kautschukartigen Backware vergrub. Nicht sein Leibgericht, aber immerhin würde das luftige Gebilde seine Magenwände auskleiden und den Blutzuckerspiegel deutlich über Normalnull steigen lassen.
Während beide über das Absperrband stiegen lauschte er Annas Worten:
„Carmen Terhagen. Kam gegen 1.00 Uhr aus dem Club und wollte ihre Tasche aus dem Kofferraum holen, als sie dort den Verblichenen fand. Die Lady ist Buchhalterin und ein völlig unbeschriebenes Blatt. Weiß nicht, wie ihr geschehen ist. Hat es mehr mit der Modewelt als mit der Unterwelt. Wirkt auf mich glaubwürdig.“
„Und weiß man schon, wer der leblose Kollege im Gepäckabteil sein könnte?“
Sie hatten den Wagen erreicht und blieben vor der geöffneten Klappe des Alfas stehen, während er sich die Reste seiner Mahlzeit einverleibte.

Im Inneren befand sich der leblose Körper eines Mannes. Offensichtlich nicht sehr groß gewachsen und embryonalartig zusammengerollt. Das Haar dunkel und zu einer Bürste geschnitten. Bekleidet war er mit schwarzer Jeans und ebenso farbigem Hemd. Irgendwo zwischen 40 und 50 schätzte Paul sein Alter ein. Auf den ersten Blick waren für ihn keine sichtbaren Spuren eines Kampfes oder sonstiger Gewalteinwirkung zu erkennen. Fast schien es, als hätte der Typ seine Fahrkarte in die ewigen Jagdgründe mit einem Lächeln gezogen.
„Frag mal Thomas, der weiß sicher mehr“, meinte Anna.

Thomas war Beamte der Spurensicherung. Hatte nur noch wenige Jahre bis zur Pensionierung. Ein gelassener und ziemlich ausgefuchster Kollege. Fand stets irgendwelche Nanospuren an Tatorten, die er dann zu juristisch beschusssicheren Beweisen klöppeln konnte. Paul schätzte seine Uhrwerkspräzision und die Erfahrungsmassen, die sich im Laufe von Jahrzehnten bei ihm angestaut hatten. Er war sich sicher, dass wenn er eines Tages Opfer eines heimtückischen Anschlages werden sollte, nirgendwo so fachgerecht seine sterblichen Überreste auf Spuren provozierten Ablebens untersucht werden würden, als in den Händen von Thomas.
.
Paul erspähte ihn etwas abseits des Wagens. Auf dem Boden kauernd und wie er gerade damit beschäftigt war, allerlei Utensilien in einen Koffer zu verstauen.
„Hey, Kollege, schon auf dem Rückzug?“
Thomas drehte sich herum, sah die Gruppe um den Tisch stehen, stand auf und kam zu ihnen herüber.
„Kannst du uns schon mit Details aufheitern?“, wollte Paul wissen.
Thomas nickte nachdenklich.
„Hi erstmal. Na ja, scheint erschossen worden zu sein. Zumindest fanden wir zwei Durchtrittspforten im Bereich des Oberkörpers. Vorne rein und hinten raus - oder umgekehrt. Merkwürdige Geschichte. Ziemlich sauber, geradezu chirurgisch. Keine Projektile und kein Blut zu finden. Weiteres, wenn wir ihn dann auf dem Tisch in der Gerichtsmedizin haben.“
Anna schob sich an Pauls Seite.
„Erkenntnisse zur Person?“
„Hatte keine Papiere dabei, aber ich glaube, ich kenne den Typen.“
„Echt?“, ließ sie erstaunt hören.
„Wenn mich ich nicht irre, dann gehört ihm ein Friseursalon in der Stadt - „Edwins Haarstube“. Glaube, dass ich da mal gastiert habe. Werden das mal checken.“
Paul gab ein schnaubendes Geräusch von sich.
„Na ja, das engt den Kreis möglicher Verdächtige auf unzufriedene Kunden ein. Leute, die statt Haarpracht eine gesprengte Ratte nach der Behandlung auf dem Kopf fanden. “
„Hm…wenn es der ist, den ich meine, dann gäbe es noch einen anderen Aspekt. Der Bursche war ein seltsamer Vogel. Ziemlich esoterisch. Hatte allerlei komisches Zeug in dem Laden. Kristallkugeln und so.“
„Rotes Telefon nach oben“, meinte Paul grinsend.
„Hey, etwas mehr Respekt vor den höheren Mächten bitte“, entgegnete Thomas in gespielter Entrüstung und wendete sich ab, um weiter sein Arbeitsgerät zu verstauen.

Paul drehte sich herum und erspähte Carmen in einiger Entfernung, wie sie mit gelangweilter Miene auf einem Handy tippte.
„Ist das die Leichenchaffeuse?“, wendete er sich fragend Anna zu.
Sie bejahte und mit einer Handbewegung bedeutete ihr zu folgen.
Carmen hörte die beiden herankommen und verstaute das Telefon in die Tasche ihrer Hose.
„Kommissar Paul Leuschen. Meine Kollegin kennen sie bereits. Wir werden den Fall gemeinsam bearbeiten.“
Sie richtete ihre Augen auf ihn und nahm die angebotene Hand mit einem schlaffen Druck entgegen.
„Carmen Terhagen. Ein Theater ist das hier“, warf sie ihm sichtlich gereizt entgegen, „was passiert denn nun mit dem Holzkittelträger und vor allem, wann kann ich meine Tasche wiederhaben?“
„Die Jungs von der Gerichtsmedizin werden sich der Sache annehmen. Treffen gleich ein und kümmern sich um den Abtransport. Ich danke schon mal für ihre Geduld.“
Er kramte in der Hosentasche und beförderte eine zerknitterte Visitenkarte an das Neonlicht.
„Rufen Sie uns an, wenn ihnen noch etwas einfallen sollte, das von Bedeutung sein könnte. Unabhängig davon werden wir sie in den nächsten Tagen sicher noch mal kontaktieren.“
Carmen nahm die Karte entgegen und warf einen gelangweilten Blick darauf.
„Ok, von mir aus…“, entgegnete sie mit einem entnervten Unterton.
Paul nickte ihr freundlich zu und zog Anna beiseite.
„Lass uns gehen und noch eine Kappe Schlaf nehmen. Wir treffen uns dann später auf dem Revier und entwerfen coole Pläne für das weitere Vorgehen“, sagte Paul.
„Klingt brauchbar“, antwortete sie und hielt sich gähnend eine Hand vor dem Mund, „dann mal beste Grüße an Angelina und sie soll mir ihren Mann schicken.“
Anna zwinkerte ihm verschwörerisch zu, bevor sie sich abwendete und ihren Wagen ansteuerte.
„Bin momentan leider unabkömmlich“, warf er ihr noch hinterher.
Sie lachte laut als sie in ihr Cabrio stieg.

Paul ließ sich auf den Fahrersitz des Diplomats gleiten, startete die Maschine, rangierte aus der Parklücke und rollte auf die Straße. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck starrte er durch die Scheibe. Die Lichter des Wagens durchschnitten die Nacht und Häuser huschten vorbei. Ihm fröstelte bei dem Gedanken an das Gesehene. Wohl aber nicht nur deswegen. Ein kalter Hauch schien durch das Wageninnere zu strömen und Paul spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Instinktiv tastete er zu der Waffe an seinem Gürtel.
„Das brauchen sie nicht“, tönte es mit einem Male in seinem Rücken.
Er zuckte zusammen. Der Wagen schlingerte kurz.
„Fahren sie bitte weiter.“
Paul sah in den Rückspiegel und blickte in das Gesicht eines Aliens. Zwar war dieses seine erste Begegnung mit einem, aber er benötigte keine Google-Recherche um sich seiner Sache sicher zu sein. Das gelbe Augenpaar, das ihn freundlich durch den Spiegel ansah, sprach für sich. Ein auffällig großes Augenpaar, welches große Teile des schmalen Gesichtes blassblauer Färbung einnahm. Dazu ein kleiner, dünnlippiger Mund, der sich zu einem angedeuteten Lächeln verzogen zu haben schien.
Er hatte nichts gegen Aliens. Grundsätzlich nicht. Wenn es ihm auch unter diesen Umständen ungelegen schien. Mitten in der Nacht, auf der Rückbank seines Wagens und unter dem Eindruck des Besuches eines eher ungewöhnlichen Tatortes.
„Wer zur Hölle sind sie und was machen sie in meinem Wagen?“
Die fremde Erscheinung drehte den Kopf und sah durch die Scheibe. Die vorbeiziehenden Straßenlaternen warfen glitzernden Schimmer auf das glatte, schwarze Haar des Wesens, das straff über den Kopf zurückgelegt war und kleine Ohren umrahmte, die nahezu vollständig in den Kopf eingelassen schienen.
„Ka-Hal, wobei mein Name in ihrer Sprache nur unzureichend dargestellt ist.“
Das Wesen hatte wieder den Kopf gewendet und schaute ihn durch den Spiegel an. Lidähnliche Häute fuhren in schneller Abfolge über die Augen und es wirkte, als würde es ihm zublinzeln.
„Ok, Ka-Hal, was zum Henker machen sie in meinem Wagen? Was wollen sie von mir?“
„Nun, wir sind so etwas wie Kollegen. In meiner Heimat gehe ich einer vergleichbaren Tätigkeit zu ihrer nach.“
„Unterbezahlter Jäger lichtscheuer Existenzen? Herzlichen Glückwunsch und weiter?“
„Dieser Fall ist ziemlich brisant.“
„Welcher Fall?“, entgegnet Paul.
„Die Leiche, die sie soeben gefunden haben.“
„Was wissen sie darüber und was haben sie damit zu tun?“
„Edwin war eine wichtige Person für uns. So etwas wie ein Mittelsmann. Hat Kontakte koordiniert.“
Paul entfuhr ein heiseres Lachen. Er trat auf die Bremse, lenkte den Wagen an den Straßenrand, schaltete ihn aus und wendete sich dem Besucher zu.
„Hören sie, wer auch immer sie sein mögen. Ich bin müde und genervt. Sie haben sich auf den Rücksitz geschlichen und erzählen mir hier eine wirre Geschichte von anderen Welten. Dafür habe ich jetzt echt keine Geduldskapazitäten. Steigen sie einfach nur aus und wir gehen unserer Wege. Sie, wo immer sie hin wollen und ich ins Bett.“
Das Wesen schaute ihn für einen Moment aus großen, gelben Augen an und betätigte dann den Türöffner.
„Gut, ich werde gehen. Ruhen sie sich aus und wir reden später.“
Im Halbdunkel sah Paul eine Handbewegung und wie ein Gegenstand auf den Beifahrersitz fiel. Er warf einen Blick darauf und erkannte ein flaches, rechteckiges Ding, das etwa Spielkartengröße haben mochte. Es schimmerte metallen im Schein der Laternen. Bevor er sich näher mit dem Objekt beschäftigen konnte, hörte er das dumpfe Geräusch der zuschlagenden Autotüre.
Paul hob den Kopf und sah kopfschüttelnd dem Fremden nach, wie dieser gerade ausgestiegen war und sich rasch vom Wagen entfernte. Er startete den Motor und lenkte den Diplomat wieder auf die Straße. Als er erneut in den Rückspiegel sah, war der Fremde verschwunden. Beinahe so, als hätte es ihn nie gegeben.
Paul schüttelte den Kopf und grinste.
„Verrückt“, schoss es ihm durch den Sinn, „eine irre Welt, in der wir leben“.
Das dachte er auch noch später, als sein Kopf auf das Kissen im heimischen Bett sank. Unmittelbar neben dem Nachttisch, auf dem sein Handy lag und ein metallisches Objekt, das seltsam bläulich im Licht der durch die Jalousien eintretenden Strahlen der Straßenbeleuchtung schimmerte.
Paul verfiel in einen unruhigen Schlaf…

© by P.H.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen