Montag, 24. Oktober 2011

Endstation Sehnsucht

Der stählerne Wurm schlängelt sich in rasendem Tempo durch dunkle Röhren unterhalb der Stadt. In regelmäßigen Abständen stoppt er seine Fahrt, öffnet Luken, entleert Teile seines Inhaltes und erhält neue Füllung. Immer und immer wieder.
Ein mechanischer Wiederkäuer, gefangen in der Endlosschleife, denkt Anna und schüttelt sich bei dem Gedanken, im Verdauungstrakt eines künstlichen Wesens durch unterirdische Höhlen geschossen zu werden – als Bestandteil eines gewaltigen Stoffwechsels. Fest umklammert sie die Haltestange und konzentriert sich auf das rhythmische Geräusch der Räder, die über Schwellen tanzen. Der Takt verliert an Geschwindigkeit, wird leiser und verschwindet schließlich ganz, als der Zug die nächste Station anfährt.

In den Wagon kehrt mit einem Mal geschäftige Bewegung ein. Viele der Fahrgäste geben besetzte Plätze auf und drängen zu den Türen. Anna presst sich zwischen entgegenkommenden Körper hindurch und steuert eine der freiwerdenden
Sitzgelegenheiten an. Mit einem Seufzer lässt sie sich in das dünne Polster fallen
und befördert mit der Rechten die Tüte an ihrer Seite auf die Knie.
„Schmutzige Wäsche – unser Geschäft!“ prangt in weißen Lettern auf der
Plastiktasche.
Anna hebt eine Seite an und lässt ihren Blick prüfend über den Inhalt gleiten. Der Stapel
weißer, in Zellophan gepackter Hemden hat von seiner Ordnung eingebüßt. Die
Textilien liegen nicht mehr Kante auf Kante. Befürchteter Kollateralschaden. Eine Folge
der drängenden Enge in dem Zug. Sie wird die Kleidung zu Hause nochmals
bügeln müssen. Hermann wird die Falten in den Hemden bemängeln und sie
nachdrücklich auf die Behebung des Missstandes hinweisen.
„Mit diesem Faltenrock kann ich meinen Kunden nicht unter die Augen treten,
Liebes. Das verstehst du doch?“
Sie würde schuldbewusst nicken, das Bügeleisen aus dem Schrank nehmen und
sich, unter seinen prüfenden Blicken, sofort an die Arbeit begeben.
Selbstverständlich sollte Hermann mit einwandfreier Oberbekleidung auftreten. So, wie es ihr seine Mutter einst gelehrt hatte. Damals, als sie mit seinem Sohn die erste gemeinsame Wohnung bezog - unmittelbar nach der Hochzeit. Gerda hatte ihr einige wohlmeinende Instruktionen auf den Weg gegeben.
„Siehst du hier – immer Kante auf Kante und dann von der Mitte nach außen
bügeln.“
Anna hatte es sehr schnell gelernt – selbst unter den kritischen Augen der Schwiegermutter. Und innerhalb kürzester Zeit waren die Ergebnisse ihren Ansprüchen gewachsen gewesen.
„Naja, ganz ordentlich“, hatte diese schließlich kommentiert, aber der Unterton in ihren Worten war keiner, der von aufrichtige Anerkennung durchtränkt schien.

Anna lauscht dem kraftvollen Summen des Elektromotors, als der Zug wieder Fahrt
aufnimmt und in kürzester Zeit die vorgesehene Höchstgeschwindigkeit erreicht. Dumpf dringt ein polterndes Geräusch durch die Wände des Wagons, da dieser im nächsten Moment einige Weichen passiert. Leichte Beben folgen, die die Fahrgäste vibrieren lassen. Keiner der Anwesenden zeigt sich beeindruckt. Der ältere Herr zu ihrer Linken ist immer noch in seiner Ausgabe der Tageszeitung versunken und das Paar, wenige Sitzreihen weiter, verharrt im Stadium eines scheinbar endlosen Kusses. Niemand der
Mitfahrenden scheint Notiz von der lippenverwobenen Gefühlseinheit zu nehmen. Interessiert bemerkt sie, dass der männliche Teil des Paares ein dunkles Shirt trägt. Kein Hemd und auch nicht weiß.
Was, wenn das Bügeleisen heute kalt bliebe?, schießt es ihr plötzlich durch den Kopf.

Jäh wird Anna in ihren Gedanken aufgeschreckt, als mit einem Mal die rasante Fahrt unterbricht und der Zug unter ohrenbetäubendem Quietschen zu einem Bremsmanöver ansetzt. Ein dumpfes Poltern ertönt während die Bahn zum Halten kommt, gefolgt von einem Ruck, der die Kabine erfasst und sämtliche Fahrgäste den Gesetzen der Massenträgheit folgen lässt. Mit entsprechenden Folgen - einige rutschen von den Sitzen und finden sich, unsanft gelandet, auf dem Wagenboden wieder oder in unfreiwilligem Körperkontakt mit der gegenübersitzenden Person. Stehende Mitreisende, die sich nur mangelhaft Halt verschafft hatten, werden stolpernd und fallend von einer unsichtbaren Leine durch den Wagon gezogen. Schreckensrufe, Flüche und vereinzeltes Lachen mischen sich mit aufkommendem Stimmgewirr. Amüsiert beobachtet Anna das Treiben, zufrieden mit ihrer Entscheidung, einen Sitz gegen die Fahrtrichtung gewählt zu haben. Lediglich ein unbeabsichtigtes Kopfnicken hatte das Bremsmanöver bei ihr ausgelöst, als sie für einen kurzen Moment in den Sitz gepresst wurde. Ebenso mag es dem älteren Herren neben ihr ergangen sein, der nun seine Zeitung zusammenfaltet und aus dem Fenster starrt.
„Nicht schon wieder“, murmelt er vor sich hin.
Bevor Anna seinen Gedanken folgen kann, ertönt ein kurzes Knacken in den Lautsprechern des Wagens, die eine Durchsage ankündigen.
„Wir bitten um Entschuldigung für diesen Nothalt. In wenigen Minuten wird die Fahrt fortgesetzt. Verlassen Sie nach Möglichkeit ihre Plätze nicht.“
Anna starrt nun auch durch das Fenster in Richtung des Triebwagens. Im Halbdunkel der Röhre lassen sich allerdings nur schemenhafte Strukturen ausmachen. Es scheint, als hätte der Zugführer seine Kabine verlassen, da die Türe zu seinem Kontrollstand offen steht. Sekunden vergehen ohne erkennbare Bewegung im Tunnel, als der wippende Schein einer rasch näher kommenden Taschenlampe erkennbar wird. Der Lichtkegel kreist über die Wände des Schachtes und für einen Moment wird die Gestalt einer Person sichtbar, die sich in kniender Position auf den Gleisen befindet.
„Hm“, hört sie plötzlich die Stimme ihres Sitznachbarn, „das ist schon der Zweite in dieser Woche.“
„Der Zweite?“, fragt Anna.
„Ja, die spazieren in einen dieser Tunnels, setzen sich auf die Schienen und hoffen, dass es schnell geht.“
Sie sieht ihn an und bemerkt, wie eine ernste Mine das faltige Gesicht des älteren Herren besetzt hat. Mit einer Hand reibt er sich über die Stirn.
„Aber, das ist ja schrecklich“, entfährt es Anna.
„Gute Frau, das ist es. Schlimm, dass manche Menschen den letzten Vorhang frühzeitig fallen lassen. Schrecklich, dass ihr Schlussakkord einem unfreiwilligem Publikum durch Mark und Bein fährt.“
Anna nickt nachdenklich.
„Was passiert jetzt?“
„Nun, er wird abtransportiert und vermutlich irgendwo untergebracht. Weg von dieser dunklen Bühne.“
Anna wendet den Blick ab und betrachtet die Tüte, die auf ihren Beinen ruht.
„Schmutzige Wäsche – unser Geschäft!“, prangt immer noch in großen Lettern auf dem Plastik. Gedankenversunken streicht sie darüber. Nur wenige Momente, dann geht erneut ein Ruck durch den Wagen und der Zug nimmt wieder Fahrt auf.

Bald erreichen sie die übliche Reisegeschwindigkeit – als hätte es keine Unterbrechung gegeben. In der Kabine bewegt sich die Atmosphäre rasch in Ausgangslage zurück. Vereinzelt tuscheln Reisende miteinander und wiegen ernst die Köpfe. Das in Leidenschaft entbrannte Paar hält sich nun umarmt und ein ziemlich finster dreinblickender Mann mittleren Alters scheint sie mit dem körpereigenen Radar erfasst haben. Typ potentieller Geiselnehmer, wie sie mit Abscheu bemerkt. Kaum möglich, seinen durchdringenden Blicken zu entgehen, die er aus türnaher Position in ihre Richtung sendet. Blicke, wie sie auch Hermann von Zeit zu Zeit an den Tag legt. Üblicherweise in den frühen Abendstunden eines Wochenendtages.
„Liebes, kommst Du bitte?“, sagt er dann und schlägt die Bettdecke auf, unter der er sich bereits in einem erregten Zustand befindet. Was dann folgt, ist ein mechanisches Lustspiel von kurzer Dauer, dem sich unmittelbar danach lärmende Schlafgeräusche aus seinem halb geöffnetem Mund anschließen. Immer häufiger ertappt sich Anna inzwischen dabei, wie sie sich vorstellt, eines der gestärkten Kopfkissen auf diese Geräuschquelle zu drücken. So lange, bis kein Laut mehr zu hören ist.

Schlagartig wird sie aus den Gedanken gerissen, als eine schnarrende Stimme blechern den kommenden Haltepunkt verkündet:
„Nächste Station Hoffnungsring. Für die Anschlüsse Richtung äußerer Zirkel
bitte umsteigen.“
Sie späht durch die Scheibe, hinter der das Dunkel mit einem Mal Helligkeit weicht, als der Zug in die Station einfährt und deutlich an Fahrt verliert, bis er mit einem Ruck zum Stehen kommt. Menschen greifen nach Taschen, Hüten, Zeitschriften und befördern sich mehr oder weniger schwungvoll in die Höhe. Auch der ältere Herr neben ihr erhebt sich. Freundlich nickt er Anna zu.
„Wünsche noch eine gute Reise. Mögen sie ihr Ziel wohlbehalten erreichen.“
Sie lächelt.
„Danke, das werde ich.“
Dann passiert er sie und steuert den Ausgang an. Mit einem Zischen schwingen die Pforten der stählernen Transporthülle auf und entleeren menschlichen Inhalt auf die steinerne Plattform der Station. Neue Zielsuchende strömen hinein.
Zu ihrer Erleichterung bemerkt sie, dass auch der finstere Fahrgast mit dem hungernden Blick den Zug verlässt. Nicht, ohne sie vorher noch einer visuellen Ferninspektion unterzogen zu haben.

„Verzeihung, ist hier frei?“
Anna zuckt zusammen, als sie eine Berührung an der Schulter verspürt, den
Kopf hebt und in das Gesicht eines Mannes schaut, der sich als Inhaber eines
Paar blauer Augen entpuppt, die ziemlich neugierig unterhalb eines blonden
Schopfes ihren Blick suchen.
„Äh…ja, aber sicher.“
Sie kann spüren, wie die Überraschung verlegene Röte in ihr Gesicht strömen
lässt und blickt zu Boden, während der Fahrgast Position auf dem gegenüberliegenden Platz bezieht.
„Ich wollte ihnen keinen Raum streitig machen, da es wirkte, als wollten sie
die Tüte auf dem Sitz platzieren“, bemerkt der Mann.
„Oh, nein. Hatte sie nur auf den Knien, damit der Inhalt nicht verknittert.“
Lächelnd mustert er sie.
„Wertvolle Textilienfracht, wie ich der Verpackung entnehme.“
„Nur einige Hemden“, entgegnet Anna in scheinbarer Gleichgültigkeit.
„Nun, für manche einfach nur Hemden, für andere Ausdruck ihrer Persönlichkeit.“
„Na, so weit würde ich nicht gehen“, entgegnet sie lachend, „ist nur etwas Stoff.“
„Sie sagen es“, antwortet der Mann grinsend.
Dann wendet er den Blick ab und lässt ihn durch den fahrenden Raum wandern. Anna beobachtet ihn dabei und registriert seine wachen Augen, die neugierig von Mitreisenden zu Mitreisenden wandern. Dabei verziehen sich hin und wieder seine Lippen zu einem Lächeln und entblößen Reihen makelloser Zähne. Fasziniert von dieser kindlich anmutenden Neugier vermag Anna kaum den Blick von diesem Mann zu lösen. Zudem, so muss sie sich eingestehen, übt er mit seiner Erscheinung eine magnetisierende Wirkung auf ihre Wahrnehmungsorgane aus. Nicht übermäßig groß und breitschultrig, wie es das klassische Bild eines knieerweichenden Mannes wäre, aber mit einer Ausstrahlung von positiver Offenheit versehen, die sie in den Bann schlägt.
Mit einem Mal greift ihr Gegenüber in die Tasche seiner Jacke und zieht einen Bogen Papier heraus. Er legt ihn auf die Oberschenkel und beginnt diesen zu falten. Vorsichtig gefühlvoll und mit großem Geschick bewegen sich dabei seine Finger.
Anna beobachtet ihn fasziniert und beginnt sich zu fragen, welchem Zweck diese Tätigkeit dienen könnte. Immer weiter faltet der Mann das Papier, wendet es und entfaltet an anderer Stelle wieder. Sein Blick konzentriert und die Hände gekonnt in Dialog mit dem Material.

Minuten vergehen und Anna ist so vertieft in die Beobachtung der handwerklichen Einlage des Mannes, dass sie ihrer Umgebung keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken vermag. Er vollführt noch einige Kunstgriffe, legt dann das Endprodukt auf eine seiner Handflächen, hebt den Kopf und lächelt sie an.
„Das ist für Sie.“
Anna zuckt zusammen, da sie sie sich wie aus einem Trancezustand gerissen fühlt und benötigt einen Moment, um das Objekt auf seiner Handfläche zu realisieren.
„Oh…danke.“
Nicht detailgetreu, was dem Material geschuldet sein mag, aber unzweifelhaft zu erkennen ist die Gestalt einer Katze. Kopf, Körper, Beine und Schwanz zu einer Papierskulptur gefaltet.
Sie nimmt das Werk zwischen ihre Finger und lächelt verlegen.
„Das ist toll. So etwas habe ich noch nie gesehen. Wie kommen Sie dazu?“
„Ist nur so ein kleiner Zeitvertreib. Versuche, Ideen eine Form zu geben.“
Im selben Moment reicht er ihr eine Hand, die sie einem Reflex folgend, ergreift.
„Jan – mein Name, und Deiner?“
Zu ihrer eigenen Verblüffung antwortet sie spontan:
„Anna.“
„Hallo Anna - wusstest Du, dass Katzen besondere Wesen sind? Sie sind nämlich in beiden Welten zu Hause – in dieser hier und dem Schattenreich. Wir Menschen können das nicht und daher fehlt uns oftmals der umfassende Blick für die Dinge.“
„Oh, das wusste ich nicht“, bemerkt Anna nachdenklich, „das erklärt auch, warum sie nicht wirklich zu zähmen sind.“
„Niemand sollte das sein, Anna“, entgegnet Jan und mustert sie aufmerksam aus seinen blauen Augen, in denen sie eine Tiefe zu entdecken glaubt, dass ihre Gedanken zu Sturzbäche in diese werden.
Mühsam reißt sie sich aus der Versenkung, hebt den Blick und realisiert, dass sich der Wagen inzwischen weitestgehend geleert hat. Nur noch wenige Menschen halten die Bänke besetzt. Einzelne Reisende, die in das vorbeihuschende Halbdunkel starren. Wieder lauscht sie dem rhythmischen Rattern der Räder und wieder verlangsamt sich der Takt, als der Zug die nächste Station anfährt.
Blechern hallt die Stimme aus den Lautsprechern von der Decke:
„Endstation Sehnsucht. Der Zug stoppt hier. Bitte aussteigen. Für die Anschlüsse Richtung innerer Zirkel bitte umsteigen.“

„Lass uns gehen“, sagt Jan und greift nach Annas Hand. Sie fasst die seine und lächelnd verlassen sie den Wagen. Keiner von beiden wirft einen Blick zurück, als sie die Rolltreppen betreten und sich aus dem Halbdunkel der unterhöhlten Stadt tragen lassen. An der Oberfläche strahlt die Sonne vor einem nahezu wolkenfreien Himmel. Und wahrend beide die wärmenden Strahlen auf den Gesichtern genießen, durchschreitet einige Meter unter ihren Füßen gerade ein Bahnführer die Wagen seines Zuges - vorbei an leeren Sitzreihen. Kopfschüttelnd sammelt er all die Gegenstände auf, die liegengelassen wurden. Neben achtlos weggeworfenem Verpackungsmaterial und Werbebroschüren großer Elektrofachmärkte befindet sich diesmal auch eine Tüte. Eine Tüte, auf der in großen weißen Lettern ein Slogan prangt:
„Schmutzige Wäsche – unser Geschäft!“

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